Präzisionsmedizin ist ein neues, viel verwendetes Schlagwort, das jedoch mit wenigen Inhalten gefüllt ist. Die Hoffnung besteht darin, dass man in der Zukunft durch molekulargenetische Methoden Parameter definieren kann, die die gezielte Anwendung von therapeutischen Methoden ermöglichen. Personalisierte Medizin umschreibt jene Methoden, bei denen nicht DNA-Marker, sondern individuelle Bedürfnisse des Patienten angewendet werden. Dies war als Thema für den Postgraduiertenkurs der Österreichischen Gesellschaft für Gastroenterologie (ÖGGH) geplant, musste aber wegen der Coronakrise auf 2021 verschoben werden. Im Folgenden erfolgt eine Zusammenfassung der geplanten Themen, die im nächsten Jahr detailliert behandelt werden.
Präzisionsmedizin wird durch folgende drei Faktoren ermöglicht:
Therapeutisch bedeutsam ist die personalisierte Medizin aktuell vor allem in der Onkologie. In der gastroenterologischen Onkologie wurden die größten Fortschritte bei kolorektalen Karzinomen (KRK) erzielt.
Kolonkarzinom: Gentests beim KRK sind nicht nur für die Risikostratifizierung, sondern auch für die Behandlungsplanung wichtig. Gezielte Therapeutika haben die Ergebnisse einiger Patienten wirklich verändert. Bei metastasierenden Erkrankungen weisen 50–60 % der Patienten eine Mutation im RAS-Signalweg (KRAS, NRAS) und 5–10 % eine BRAF-Mutation auf. Ein KRK ist häufig vererbbar. Insbesondere ist das Lynch-Syndrom eine Störung der Mikrosatelliteninstabilität (MSI), bei der der DNA-Mismatch-Repair (MMR) verändert wird, was zu einer erhöhten Veranlagung für Mutationen führt. Der MSI-Phänotyp, der mit der Tumorentstehung in Verbindung gebracht wurde, resultiert aus Defekten bei der Reparatur von DNA-Fehlpaarungen. Die MSI kann als hoch (MSI-H) oder niedrig (MSI-L) bezeichnet werden, wobei einige Daten darauf hinweisen, dass die Prognose bei Patienten mit MSI-H im Stadium II günstiger, im Stadium III jedoch weniger günstig ist. Immuncheckpoint-Inhibitoren wie Pembrolizumab haben bei Patienten mit MSI-H-KRK einen signifikanten Nutzen gezeigt. Vorhersagemodelle unter Verwendung genetischer und umweltbedingter Faktoren für die Risikostratifizierung für ein maßgeschneidertes Screening müssen jedoch in verschiedenen Populationen validiert werden.
Hepatozelluläres Karzinom: Molekulargenetisch gesteuerte Therapien werden beim hepatozellulären Karzinom (HCC) und bei anderen Karzinomen des Gastrointestinaltraktes intensiv untersucht. Beim HCC wurde der Fortschritt in der molekulargenetischen Therapiesteuerung lange Zeit dadurch behindert, dass in vielen Leitlinien die Tumorbiopsie zur Diagnosestellung nicht unbedingt gefordert war und daher nur wenige Zentren Gewebebanken mit Proben von fortgeschrittenem HCC zur Verfügung hatten. Für die Praxis relevant, konnten aber rezent Mutationen im PI3K/mTOR-Pfad als prädiktiv für ein Versagen von Sorafenib aufgezeigt werden, und für die Immuntherapie beim HCC konnten Tumoren mit einer β-Catenin-Mutation als immunologisch „kalt“ und damit nicht responsiv ausgemacht werden. Wnt-β-Catenin-Mutationen kommt somit eine praktische Rolle als prädiktiver Biomarker und Kriterium zur Therapieselektion für die Therapie mit PD-1-Inhibitoren zu, eine Tumorbiopsie wird jedoch weiterhin benötigt. Personalisiert waren die Therapieansätze beim HCC aber schon davor, indem nicht nur das Tumorstadium, sondern auch der Allgemeinzustand des Patienten und die Leberfunktion ganz entscheidend für die Therapieselektion in Betracht gezogen wurden.
Validierung als Voraussetzung: Um die Präzisionsmedizin in der Bevölkerung zu verwirklichen, muss sich das Gesundheitswesen auch an den Umgang mit Big Data, disruptiven Technologien und künstlicher Intelligenz befassen. Bei personalisierten Therapieansätzen besteht die Gefahr eines Hypes, bevor eine weitere Validierung erfolgt ist. Die Anwendung molekulargenetischer Marker zur Therapiewahl bedarf wie ein neues Medikament einer prospektiven Untersuchung. Eine konsequente Kritik an solchen schlagzeilenwürdigen Ergebnissen ist, dass eine „therapeutische Umsetzbarkeit“ im Alltag nicht gegeben und meist in klinischen Studien möglich ist. Umgekehrt kann ein molekularer Marker jedoch anzeigen, dass eine heute gängige Chemotherapie nur einen geringen Erfolg bringen wird, wie z. B. der Nachweis einer KRAS-Mutation bei anti-EGFR-basierten Therapien.
In der Hepatologie haben zahlreiche genomweite Assoziationsstudien (GWAS) genetische Faktoren gefunden, die bei der Entstehung und möglicherweise bei der Therapiewahl eine Rolle spielen. Als erster genetischer Faktor wurde eine Mutation des IL28B-(IFN-4-)Gens beschrieben, die bei Ansprechen auf Interferon-α bei chronischer Hepatitis C eine Verkürzung der Therapie erlaubt. Die Verfügbarkeit der modernen DAA, die zu 99 % die Hepatitis C heilen, braucht jedoch nicht die Bestimmung dieser Variante.
Fettleber: Die heute wichtigste Leberkrankheit ist die Fettleber nutritiver (NAFLD/NASH) oder durch Alkoholkonsum bedingter Genese (AFLD/ASH). Epidemiologische und genetische Studien weisen auf einen starken Beitrag der Genetik hin, die einen Teil der Variabilität des NAFLD/AFLD-Phänotyps und des Progressionsrisikos erklären kann. Bisher wurden mindestens fünf häufige Varianten in den Genen PNPLA3, TM6SF2, HSD17B13, MBOAT und GCKR in der Population stark mit NAFLD verknüpft. Die Effekte der PNPLA3-Variante I148M auf den Schweregrad von NAFLD/NASH wurden ausführlich untersucht. Sie ist mit einem erhöhten Risiko für Lebersteatose, Leberfibrose/Leberzirrhose sowie für ein HCC assoziiert. Das PNPLA3-Protein ist in der Leber stark exprimiert und weist eine Lipaseaktivität gegenüber Triglyzeriden in Hepatozyten und gegenüber Retinylestern in HSC auf. Klinisch bedeutsam ist, dass Patienten mit der Variante PNPLA3 I148M ein erhöhtes Risiko haben, ein Hepatom zu entwickeln.
HSD17B13 wird hauptsächlich in der Leber exprimiert. Zuletzt wurde festgestellt, dass HSD17B13 eine zuvor unbeschriebene hepatische Retinol-Dehydrogenase (RDH) ist, und es wird angenommen, dass seine Wirkung auf die NAFLD-Pathogenese mit seiner enzymatischen Aktivität und möglicherweise mit ihrem Einfluss auf die Retinoid-Homöostase zusammenhängt. Die hepatische Expression von HSD17B13 bei NASH-Patienten ist 5,9-mal höher. Die HSD17B13-Varianten (rs6834314 oder rs72613567) mitigieren sichtlich die Progression der alkoholischen und nichtalkoholischen Fettleber. In der Praxis hat diese Variante kaum eine Bedeutung und soll nicht zum Schluss führen, dass homozygote Träger dieser Variante unbeschränkt Alkohol trinken dürfen. Es wird jedoch intensiv geforscht, um diese Mechanismen pharmakologisch zu beeinflussen.
Das Ziel der Präzisionsmedizin im Bereich CED besteht darin, spezifische klinische und biologische Merkmale einzelner Patienten zu nutzen, um den Krankheitsverlauf vorherzusagen und die Behandlung auf eine optimale Versorgung zuzuschneiden. Durch Verwendung von Biomarkern können Patienten in Gruppen eingeteilt und eine optimale Behandlung für jede Gruppe erarbeitet werden. Doch das ist Zukunftsmusik. Die Einführung eines präzisionsmedizinischen Ansatzes bei CED erfordert ein besseres Verständnis der Auswirkungen genetischer und umweltbedingter Faktoren auf die Wirksamkeit verschiedener Behandlungsschemata.
Mehrere Studien haben die Rolle perinukleärer antineutrophiler zytoplasmatischer Antikörper (p-ANCA) zur Vorhersage der Reaktion auf Anti-TNF getestet. Bei p-ANCA-negativen Patienten wurde eine höhere Ansprechrate auf Anti-TNF festgestellt. Einige kleine Studien haben den Nutzen der Proteomik bei der Vorhersage der Anti-TNF-Reaktion untersucht, wobei einige Kandidatenproteine gefunden wurden. Jüngst wurde die Rolle bestimmter HLA-Antigene mit dem Versagen einer Anti-TNF-Therapie untersucht. HLA-DQA1*05:01 war mit der Immunogenität gegen Infliximab aber nicht von Adalimumab assoziiert. Hingegen erhöhte HLA-DQA1*05:05 die Immunogenität sowohl gegen Adalimumab und Infliximab. Diese Befunde könnten die Therapiewahl in Zukunft beeinflussen. In einer Reihe von Studien wurde die Genetik als prädiktiver Antwortmarker untersucht. Nach fast 20 Jahren seit der Entdeckung des NOD2-Gens und weiterer GWAS und Sequenzierungsstudien konnte bisher kein genetischer Marker für das Therapieansprechen gefunden werden.
Moderne Technologien für die mikrobielle Profilierung sowohl aus Stuhl- als auch aus Darmbiopsien, einschließlich 16s-rRNA-Sequenzierung, metagenomischer Shotgun-Sequenzierung, Metabolomik und Kultursystemen, könnten in Abstimmung mit dem Krankheitsphänotyp und dem Genotyp den Ansatz für eine personalisierte Therapiewahl ermöglichen. Dies ist insbesondere bei der Stuhltransplantation von großer Bedeutung.
Personalisierte und Präzisionsmedizin in der Psychosomatik bei gastrointestinalen Störungen ist als personenzentrierte Medizin zu sehen. Dafür gibt es derzeit keine genetischen Tests oder Biomarker – das, was zählt und auch per se bereits therapeutisch wirksam sein kann, ist die Beziehung zwischen Arzt und Patient. Insbesondere bei funktionellen gastrointestinalen Störungen wird davon ausgegangen, dass neben biologischen Prozessen, wie etwa Veränderungen im Stuhlmikrobiom, psychische Faktoren wesentlich bei der Entstehung und Aufrechterhaltung der Beschwerdesymptomatik involviert sind. Die häufigsten Störungen sind dabei das Reizdarmsyndrom und die funktionelle Dyspepsie, bei denen sehr oft auch psychische Erkrankungen wie Depression, Angst, somatoforme Störungen, chronische Belastungen wie z. B. Stress oder auch posttraumatische Störungen zu finden sind. Auch bei CED spielen diese Begleiterkrankungen in der Remissionserhaltung eine wichtige Rolle.
Die Frage, „welcher Patient mit Magen-Darm-Beschwerden nun einen psychosomatischen Support braucht“, kann aber nur individuell, personenzentriert, auf Basis einer bio-psychosozialen Anamnese beantwortet werden. Dazu bedarf es in erster Linie einer entsprechenden psychosomatischen Grundausbildung des Arztes, einer interessierten, empathischen, dem Patienten zugewandten Haltung und Zeit. In diesem Bereich besteht primär Handlungsbedarf, will man diesen Patienten eine sinnvolle, wirksame Behandlung zukommen lassen. Wenn man davon ausgeht, dass ca. 20–40 % der Patienten, die mit gastrointestinalen Beschwerden einen Gastroenterologen aufsuchen, funktionelle Störungen aufweisen, so sind entsprechende Kenntnisse in der Behandlung dieser Erkrankungen inklusive der Relevanz psychischer Faktoren wünschenswert, um ein „Abwandern“ dieser Patienten in die Komplementär- und Alternativmedizin zu verhindern. Aktuell interessant erscheint auch die Frage, ob für diese Art von personenzentrierter Medizin immer ein direkter persönlicher Kontakt erforderlich ist. Ganz rezente Arbeiten zur kognitiven Verhaltenstherapie konnten nämlich zeigen, dass diese sowohl telefonisch als auch via Internet bei Patienten mit Reizdarmsyndrom genauso wirksam ist wie im direkten Setting und signifikant wirksamer sind als eine rein supportive Behandlung – in Zeiten von COVID-19 und „social distancing“ ein durchaus relevanter Aspekt.
Lebensstil und Ernährung sind essenzielle Grundlagen für Gesundheit und Wohlbefinden. Die Umsetzung rasant zunehmender ernährungswissenschaftlicher Erkenntnisse in aussagekräftige und klinische relevante Ernährungsempfehlungen stellt heute eine der großen Herausforderungen in der Prävention und im Management vieler Erkrankungen dar. Diese neue Herausforderung der Ernährungsmedizin basiert auf der zunehmenden Erkenntnis, dass es mit großer Wahrscheinlichkeit keine einheitliche, für alle Menschen passende Ernährungsform gibt. Vielmehr zeigen rezente wissenschaftliche Daten, dass sich Menschen hinsichtlich ihrer Anforderungen an und Reaktion auf Nährstoffe und bioaktive Moleküle in Nahrungsbestandteilen fundamental unterscheiden. Unterschiedliche Faktoren wie Art und Zeitpunkt der Nahrungsaufnahme, Lebensstil, körperliche Aktivität, Umweltexposition, Variationen in Genetik (Nutrigenomics) und Epigenetik sowie dynamische Veränderungen des Mikrobioms tragen zu dieser metabolischen Heterogenität bei.
Präzisionsernährung verfolgt nicht das Ziel, einzigartige Rezepte für einzelne Personen zu entwickeln, sondern vielmehr, Menschen auf der Grundlage von Biomarkern hinsichtlich ihrer Ernährungsbedürfnisse besser stratifizieren zu können. Ein ultimatives Ziel dieser innovativen Ernährungsform ist die Entwicklung maßgeschneiderter Ernährungsempfehlungen zur Prävention und Therapie unterschiedlichster Erkrankungen. Voraussetzung für diese vielversprechende Ernährungsintervention der Zukunft ist eine komplexe individuelle Charakterisierung unter Einbeziehung einer umfassenden Phänotypisierung („deep phenotyping“), der Evaluierung von Ernährungsgewohnheiten und körperlicher Aktivität sowie der Analyse metabolomischer (Serum und Harn), metagenomischer (Mikrobiota) und genetischer Signaturen. Wenngleich diese Wissenschaft erst in ihren Kinderschuhen steckt, wird zunehmend klar, dass Präzisionsernährung enormes Zukunftspotenzial hat und „traditionelle“ Ernährungs- und Diätempfehlungen ablösen wird.