Probleme bei der Einstellung mit oralen Antikoagulantien …


… sind uns allen aus der klinischen Praxis bekannt. Liegt der INR-Wert unter dem therapeutischen Bereich, ist das Risiko für eine Thromboembolie erhöht. Liegt der INR-Wert erheblich über dem therapeutischen Bereich, dann führt das zu einem erhöhten Blutungsrisiko. Neuerdings wird empfohlen, Patienten mit schwankenden INR-Werten von den bisher verwendeten Vitamin-K-Antagonisten (VKA) auf die neuen oralen Antikoagulantien (NOAK) wie Dabigatran, Rivaroxaban oder Apixaban umzustellen. Bevor diese Empfehlung in die Praxis umgesetzt werden kann, sollten in jedem Einzelfall folgende Fragen beantwortet werden:

  • Warum schwankt der INR-Wert eines Patienten?
  • Welche Risiken birgt die Behandlung mit NOAK?
  • Gibt es Alternativen?

 

Ursachen schwankender INR-Werte: Änderungen des Gesundheitszustandes, der Ernährungsgewohnheiten und der Komedikation sind die häufigsten Ursachen für schwankende INR-Werte. Eine Verschlechterung der kognitiven Fähigkeiten oder der sozialen Versorgung kann zu einer Verschlechterung der Adhärenz bei der Medikamenteneinnahme und damit zu schwankenden INR-Werten führen. Eine Instabilität der INR-Werte ist demnach zumeist Indikator eines medizinischen oder sozialen Problems und sollte Anlass sein, die medizinische und psychosoziale Situation eines Patienten zu überprüfen, um festzustellen, ob und welcher Handlungsbedarf besteht. Eine Umstellung auf NOAK in einer solchen Situation würde das zugrunde liegende Problem nicht lösen.

Risken der Behandlung mit NOAK:

  • Durch das Wegfallen einer Labor­-kontrolle ist keine Überprüfung der Adhärenz bei der Medikamenteneinnahme möglich.
  • Es gibt kein Antidot, das bei Blutungen oder bei der Notwendigkeit einer Akut-Operation eingesetzt werden kann.
  • Medikamenten- und Nahrungsmittelinteraktionen sind weitgehend unbekannt.
  • Die gesundheitlichen Folgen einer Langzeithemmung der Thrombinsynthese sind derzeit unbekannt, denn Patienten in den Studien RE-LY, ROCKET-AF und ARISTOTLE wurden nur relativ kurz (590 Tage bis 2 Jahre) behandelt und danach nicht mehr untersucht.
  • Gastrointestinale Nebenwirkungen haben dazu geführt, dass in diesen Studien die Abbruchraten bei 20–28 % lagen.
  • Die meisten NOAK werden über die Niere eliminiert. Bei Patienten mit Niereninsuffizienz kann es zur Kumulation von NOAK und damit zu Blutungen kommen. Niereninsuffizienz ist eine häufige Komorbidität bei Vorhofflimmern, die sich im Rahmen akuter Erkrankungen und Exsikkose rasch verschlechtern kann.
  • Das Durchschnittsalter der in den NOAK-Studien behandelten Patienten lag bei 70–73 Jahren – viele Patienten mit Vorhofflimmern sind aber älter.
  • Auch das Körpergewicht der Patienten in den NOAK-Studien lag mit 82–83 kg bzw. einem Body Mass Index von 28 weit über dem vieler Patienten mit Vorhofflimmern.
  • Dabigatran-Kapseln müssen unzerkaut geschluckt und dürfen nicht zerbissen werden, was den Einsatz bei Patienten nach Schlaganfall oder mit Demenz unmöglich macht.
  • Über die Wirksamkeit der NOAK in den ersten Monaten nach einem thromboembolischen Ereignis ist noch wenig bekannt.

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass noch eine Reihe klinisch relevanter Fragen geklärt werden sollten, bevor NOAK zur Schlaganfallprophylaxe bei Patienten mit Vorhofflimmern eingesetzt werden. Darüber hinaus ist das Preis-Leistungs-Verhältnis der NOAK problematisch, denn die NOAK sind etwa 60-mal teurer als die VKA.

Gibt es Alternativen?: Es ist bekannt, dass es nationale Unterschiede in der Qualität der Behandlung mit VKA gibt.1 Vermutlich spielen nationale Unterschiede in der Organisierung des Gesundheitswesens dabei eine Rolle. Auch in den erwähnten NOAK-Studien waren die mit VKA behandelten Patienten nur 55–64 % der Zeit im therapeutischen Bereich. Es sind viele Maßnahmen bekannt, die zur Verbesserung der Qualität der INR-Einstellung betragen können: Aufklärung der Patienten und Intensivierung des Arzt-Patienten-Verhältnisses sind die wesentlichsten Faktoren. In einer Studie an der eigenen Abteilung haben wir folgende Faktoren als entscheidend für die Sicherheit in der Therapie mit VKA identifiziert: Aufmerksamkeit hinsichtlich potenzieller Blutungsquellen, Schmerztherapie unter Vermeidung nichtsteroidaler Antirheumatika und Beachtung potenziell interagierender Medikamente.2
Einen wichtigen Beitrag in dieser Hinsicht leisten die Schulungen im Zusammenhang mit der INR-Selbstkontrolle. Es wurde gezeigt, dass sowohl die Qualität der INR-Einstellung als auch die Lebensqualität älterer Menschen durch diese Maßnahmen verbessert werden können.3, 4 Bei Patienten, die selbst nicht mehr in der Lage sind, die INR-Selbstkontrolle vorzunehmen, konnte gezeigt werden, dass betreuende Angehörige oder Pflegepersonen, wenn sie entsprechend geschult werden, diese Aufgabe zufrieden stellend übernehmen können.
Die bisherigen Erfahrungen lassen erwarten, dass der finanzielle Aufwand für Teststreifen und Apparatur zur INR-Selbstkontrolle vermutlich geringer sein wird als die Therapie mit NOAK samt den vielen oben angeführten Unabwägbarkeiten.

 

Connolly SJ et al., Benefit of oral anticoagulant over antiplatelet therapy in atrial fibrillation depends on the quality of international normalized ratio control achieved by centers and countries as measured by time in therapeutic range. Circulation 2008; 118:2029–2037.
Stöllberger C et al., Problems, interventions and complications in long-term oral anticoagulation therapy. J Thromb Thrombolysis 2002; 14:65–72.
Heneghan C et al., Self-monitoring of oral anticoagulation: systematic review and meta-analysis of individual patient data. Lancet 2012; 379:322–34.
Siebenhofer A et al., Self-management of oral anticoa­gulation in elderly patients – Effects on treatment-related Quality of Life. Thromb Res 2012; 130:e60–e66.