Psyche, Adipositas und moderne Ernährung

Die Adipositas ist in der Regel auf eine überhöhte Energiezufuhr zurückzuführen. Im Hintergrund laufen dabei psychische Prozesse ab, die häufig mit einer affektiven Fehlsteuerung zusammenhängen. Dies kann auch erklären, warum eine gewünschte gesundheitsförderliche Gewichtsreduktion oft schwierig oder frustran ist. Hier werden einige Aspekte zu den Zusammenhängen zwischen Emotionen, Übergewicht und Ernährung dargestellt.

Psychiatrische Aspekte der Adipositasentwicklung

Zunächst ist festzuhalten, dass die Ursachen von Übergewicht bzw. Adipositas gemäß den Leitlinien der Deutschen Adipositas-Gesellschaft vielschichtig sind und sich daher gut in dem biopsychosozialen Modell erfassen lassen, das allerdings um den Faktor Lebensstil erweitert werden muss.1 Es bietet auch den Rahmen für die Gestaltung der typischen multimodalen Therapie der Adipositas.

  • Als biologische Faktoren sind genetische Einflüsse beschrieben, die beispielsweise über Zwillings- und Adoptionsstudien eine Heritabilität des BMI (Body Mass Index) bis 70 % einschätzen lassen.2 Auch Medikamente, u. a. Psychopharmaka (also vermutlich in Verbindung auch mit psychischen Störungen), können zu Übergewicht führen.
  • Als psychische Faktoren sind vor allem chronischer Stress (s. u.), psychiatrische Komorbiditäten und vielfältige dysfunktionale psychische Mechanismen festgestellt worden.3, 4
  • Als soziokulturelle Faktoren gelten der Ernährungsstil mit Fehlernährung und körperlichen Folgen ebenso wie auch Stigmatisierungen der Menschen mit Übergewicht und Adipositas, was weitere anhaltende psychische Veränderungen auslöst. Hinzu kommen Bewegungsarmut, niedriger sozialer Status und die ständige Verfügbarkeit von Nahrung.5

Bei der hier interessierenden psychischen Ebene fällt bei der Adipositas eine Vielzahl von psychiatrischen Komorbiditäten auf, wie z. B. affektive Störungen mit ca. 26 %, neurotische und Belastungsstörungen mit 17 % oder Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen mit 16 %.6
Dabei stellt sich grundlegend die Frage, was die Ursache und was die Folge ist, denn eine Person mit Übergewicht seit der Kindheit bzw. der Jugend kann sekundäre vielfältige psychische Veränderungen entwickeln. Depressive Syndrome sind aufgrund der jahrelangen negativen Umwelterfahrungen plausibel, ebenso andere affektive Auffälligkeiten wie Impulskontrollstörungen, Persönlichkeitsakzentuierungen, aber auch süchtige Verhaltensweisen. Dies bildet sich teilweise auch in psychiatrischen Diagnosekategorien ab.
Neurokognitive Studien haben neuerdings gezeigt, dass es zwischen Adipositas und Sucht Parallelen gibt, und zwar sowohl in Hinblick auf eine erhöhte impulsive Entscheidungsfindung als auch mit einem Aufmerksamkeitsbias für Lebensmittelstimuli z. B. auf Lebensmittelhinweise. Es sind dies geringere Selbstkontrolle, Belohnungsabhängigkeit und Dominanz negativer Affekte. Damit korrelieren die Veränderungen der funktionellen MRT-(Magnetresonanztomografie-)Gehirnaktivität bei der Belohnungsverarbeitung und bei Selbstkontrollaufgaben der Adipositas wie auch der Sucht.7 Ein weiterer Aspekt ist die Koinzidenz von Adipositas und Essstörungen.

Psychiatrische Aspekte des Essverhaltens und seiner Störungen

Die Psychiatrie untersucht Verhaltensauffälligkeiten auch bei der Erforschung der Regula­tion des Essverhaltens bzw. des Sättigungsgefühls und der dabei auftretenden Störungen, wie die unzureichende Fähigkeit der Affekt­regulation bzw. Stressverarbeitung („coping skills“).
In den letzten Jahren hat der biomedizinische Ansatz über bildgebende Methoden und Tierexperimente in der Psychiatrie ganz allgemein und auch bei der Erforschung der Essstörungen im Besonderen in Form der Neurobiologie große Erkenntnisfortschritte und Behandlungsoptionen erzielt. So zeigt die Neuropsychiatrie ­gestörten Essverhaltens eine funktionelle Dysbalance des kognitiv-kortikalen, affektiv-hedonisch-limbischen und metabolisch-hypothalamischen Gehirns.8–10 Derartige Auffälligkeiten konnten nun auch bei der Adipositas festgestellt werden. Allerdings sind viele Fragen dazu noch offen, sodass in der Praxis zunächst die klinische Psychopathologie handlungsleitend ist.

Essstörungen: Aus psychiatrisch-klinischer Sicht resultiert das Essverhalten aus der Regulation des Wechselspiels von Sättigung und Hunger, die bei der klassischen Form der Essstörung wie der Anorexia nervosa und Bulimia nervosa durch übermäßige Nahrungskontrolle und Unterdrückung des regulären Hungergefühls gekennzeichnet ist. Bei der Bulimie finden sich interimistisch Heißhungerattacken mit Essanfällen bei völligem Kontrollverlust ohne Sättigungsgefühl, selbst wenn bereits ein unangenehmes Völlegefühl und Ekel auftreten, gefolgt von selbstinduziertem Erbrechen oder anderen drastischen Maßnahmen gegen eine Gewichtszunahme. Das sog. Binge-Eating-Syndrom ist durch wiederkehrende, große Essanfälle mit Kontrollverlust und intensiven Schamgefühlen charakterisiert. Eine Subform, die überraschend häufig anzutreffen ist und auch oft zu Übergewicht und im Verlauf zu Adipositas führt, ist das sogenannte Grasen („Grazing“, „Nibbling“, ICD-10-Kategorie „Nicht näher bezeichnete Essstörungen“11). Sie ist als regelmäßiges Naschen von hochkalorischen Snacks (Chips, Salzstangerl und ähnliches fetthaltiges Salzgebäck) oder Konsum von stark zuckerhaltigen Keksen und ähnlichem während des Tages zumindest über mehrere Stunden definiert. All diese Verhaltensweisen hängen eng mit der Regulation negativer Emotionen oder chronischem Stress zusammen.

Essen als Strategie der Affektregulation: Michael Macht12 beschreibt fünf Klassen von emotional induzierten Veränderungen des Essverhaltens und spricht von einer Interferenz, Konkomitanz und Regulation von Emotion und Essen: Emotionen können das Essen und Essen kann die Emotionen regulieren.
Die Affekt- bzw. Stressregulation durch Essen lässt sich in diesem Sinne gut durch ein Regelkreismodell beschreiben:

  1. Pläne (Sollwerte) des Verhaltens werden nicht erreicht (Istwerte), z. B. durch Ablehnung bei der Arbeit, im privaten Bereich usw.
  2. Die so entstehende Enttäuschung wird als „Stress“ erlebt, mit Ärger über die Herabsetzung, als Angst vor Verschärfung der negativen Situation bis zur depressiven Reaktion beim Gefühl der Hilflosigkeit mangels funktionaler Coping-Strategie.
  3. Die einfachste und unmittelbar wirksame Coping-Strategie ist dann Essen (oder Konsum von psychoaktiven Substanzen)! Kurzfristig tritt zwar ein Gefühl der Erleichterung auf, allerdings mit einer allmählichen Gewichtszunahme.
  4. Die Gewichtszunahme führt in der Folge zu neuerlichen Versagensgefühlen sowie zu sozialer Ablehnung und weiteren körperlichen und psychischen Beschwerden. Besonders in der Jugend erfahrene Diskriminierung wegen Übergewichts bedroht langfristig den Selbstwert mit konsekutiver erhöhter Stressvulnerabilität. Auch werden z. B. am Arbeitsmarkt adipöse Menschen (v. a. Frauen) bei gleicher Qualifikation weniger häufig eingestellt, verdienen weniger Geld und werden schneller gekündigt.13

Dieser Teufelskreis, durch ungünstige Persönlichkeitskonstellationen oder psychiatrische Komorbiditäten verstärkt, kann so bis zu suchtartigem Verhalten führen.
Ein weiterer Antriebsfaktor dieses Teufelskreises ist das Angebot und die Struktur der Nahrungszusammensetzung.

Welche Rolle spielt die Nahrungszusammensetzung?

Die moderne Ernährung ist durch vielfältige Angebote geprägt und in der Werbung mit Verheißungen für Wohlbefinden, Glücksgefühlen und Gesundheit versehen, was gerade einsame oder belastete Menschen ansprechen soll. Um das Verlangen und Geschmackserleben zu verstärken, werden Speisen stark gesüßt, gesalzen oder mit versteckten Fetten angereichert. Viele von den angebotenen verarbeiteten Nahrungsmitteln erzeugen ein geringes Sättigungsgefühl trotz hoher Kalorienzahl. Ballaststoffarm, reich an einfachen Kohlenhydraten und mit oft höheren Fettanteilen lässt sich der physiologische Hunger nur wenig stillen und gleichzeitig soll der Appetit über Aussehen, Geschmack und Geruch gesteigert werden. So sind über 92 % der Produkte der Nahrungsmittelwerbung süß, fett, salzig, und es findet sich so gut wie keine Werbung für Hülsenfrüchte, Gemüse und Obst,14 entgegen der zugesagten Selbstverpflichtung der Hersteller (siehe EU Pledge Nutrition Criteria).15
In immer mehr internationalen Studien werden mögliche Zusammenhänge zwischen Ernährung und psychischen Folgen untersucht. Das heißt, nicht nur chronischer Stress verändert das Essverhalten, sondern auch die Nahrungszusammensetzung und Quantität wirken sich auf das psychische Wohl- bzw. Missbefinden aus. Hierbei scheinen Nahrungsergänzungsmittel (ausgenommen bei tatsächlichen Mangelzuständen) nur eine untergeordnete Rolle zu spielen. Aus Platzgründen darf hier nur auf den nicht nur für Herz- und Kreislauferkrankungen empfohlenen mediterranen Ernährungsstil hingewiesen werden, sondern auch auf zahlreiche Untersuchungen der positiven psychischen Wirkung durch Streichung von Fastfood und Softdrinks16 als Nahrungsmittel. Der Zusammenhang zwischen ernährungsbedingten chronischen Entzündungen und psychischen Folgewirkungen steht derzeit zusätzlich im Fokus zahlreicher Untersuchungen.17

Folgerungen für die Praxis

Als erster Schritt ließen sich die Ernährungsrichtlinien der DGE (Deutsche Gesellschaft für Ernährung) und ÖGE (Österreichische Gesellschaft für Ernährung) auch bei vielen fertigen Gerichten umsetzen, wie zunehmende Initiativen mit Nischenprodukten zeigen. Es setzt aber voraus, dass ein ehrliches öffentliches Gesundheitsinteresse auch Initiativen zur Marktlenkung setzt, beispielsweise gesundheitsabträgliche Subventionen überdenkt und stattdessen besser gezielt Mittel zur Stützung gewünschter Produkte einsetzt (Zahlen s. BUND.net18). Bevor bei der Diagnose Adipositas therapeutische Maßnahmen oder ein Programm zur Gewichtsreduktion begonnen werden, sollte zumindest eine Essstörung ausgeschlossen werden. Bei Vorliegen einer unbehandelten Essstörung sind nämlich Programme zur Gewichtsreduktion bestenfalls kurzfristig erfolgreich. Außerdem ist hier mit psychiatrischen Komorbiditäten wie Depressionen, Angst-, Zwangsstörungen oder Suchterkrankungen zu rechnen, die unbehandelt isolierte Verhaltensänderungen erschweren. Grundlegend sollte gemäß dem biopsychosozialen Krankheitsmodell stärker auf die psychosozialen Bedingungen der Adipositas durch gezielt multimodale Behandlungsprogramme eingegangen werden. Diverse Einrichtungen in Spitälern und Rehabilitationskliniken bemühen sich bereits um einen bewussteren Umgang mit Ernährung und emotionalem Essen. Das Sozialpädiatrische Zentrum der Charité, Berlin, hat dazu interessante und einfache Broschüren zum Thema Ernährung und Lebensstil für Familien mit Kleinstkindern bis zu Jugendlichen herausgebracht, die als wichtige Leitlinien für Familien gelten dürfen.19

 

1 Adipositas Gesellschaft. Interdisziplinäre Leitlinie der Qualität S3 zur „Prävention und Therapie der Adipositas“
2 Dubois L et al., PLoS ONE 2012; 7(2):e30153
3 Wardle J et al., Obesity (Silver Spring). 2011; 19(4):771–8
4 van der Valk ES et al., Curr Obes Rep 2018; 7(2):193–203
5 Lamerz A et al., Int J Obes 2005; 29 (4): 373–380
6 Zielke M, Komorbidität bei PatientInnen mit Adipositas permagna und deren Bedeutung für die Behandlungsstrategien. Vortrag 23.10.2010 . Alpbach / Tirol.
7 Michaud A et al., Front Endocrinol (Lausanne) 2017; 8:127
8 Zheng H, Berthoud HR. Physiology (Bethesda, Md.) 2008; 23:75-83
9 Morrison CD, Berthoud HR, Nutr Rev 2007; 65(12 Pt 1):517–34
10 Kessler RM et al., Neurosci Biobehav Rev 2016; 63:223–38
11 Heriseanu AI et al., Clin Psychol Rev 2017; 58:16–32
12 Macht M, Appetite 2008; 50(1):1–11
13 Sikorski C et al., Obesity (Silver Spring) 2015; 23(2):266-76
14 Missbach B et al., BMC Public Health 2015; 15:910
16 Gopinath B et al., Br J Nutr 2016; 116(12):2109–14
17 Zilberter T et al., Front Neuroenergetics 2012; 4:7