In den letzten Jahren hat sich dank intensiver Forschungsaktivität im Bereich der urologischen Onkologie eine ganze Reihe von neuen Behandlungsmöglichkeiten entwickelt. Aufwändige Entwicklungsarbeit bedingt hohe Preise dieser Medikamente und daraus folgend eine immer restriktivere Verfügbarkeit in vielen Staaten. Österreich ist eine Insel der Seligen – ist es überhaupt so, und vor allem: wird es so bleiben?
Den Auftakt einer Diskussion im Wiener Billrothhaus* bildete ein Vortrag von Mag. Beate Hartinger-Klein („Finanzierbarkeit innovativer Medikamente“), die als interessantes Beispiel ein Bundesgerichtsurteil der Schweiz brachte, das in dieser Form wohl nicht auf Österreich übertragbar ist. In dem Beispiel zeigt sich, wie man Grundsätze interpretieren kann, z. B. auch den im österreichischen Sozialversicherungsgesetz enthaltenen Grundsatz der garantierten bestmöglichen medizinischen Versorgung für jeden Bürger eines Landes. Die Stoffwechselerkrankung Mukopolysaccharidose (Morbus Hunter) kann mit einer Enzymtherapie behandelt werden, die für ein 20 Kilogramm schweres Kind etwa 500.000 Franken/Jahr kosten würde oder 900.000 Franken/Jahr für einen 70 Kilogramm schweren Erwachsenen. Der Bundesgerichtshof kam zu einem anderen Erkenntnis, nämlich dass Therapiekosten von 100.000 Franken pro Jahr angemessen wären. Interessant war die Begründung der Schweizer Richter, denen vor allem die Rechtsgleichheit für alle in vergleichbarer Lage wichtig war. Die Hochrechnung sämtlicher Erkrankungen mit ähnlich eingeschränkter Lebenserwartung ergab einen Betrag, der das 1,6-Fache der Gesamtkosten des Schweizer Gesundheitssystems ausmachen würde, weshalb ein Limit eingezogen wurde. „Ist der Aufwand nicht verallgemeinerungswürdig, so kann er aus Gründen der Rechtsgleichheit auch im Einzelfall nicht erbracht werden.“ Auch das ist eine Auslegung der bestmöglichen Versorgung aller Bürger eines Landes, und man fragt sich, ob sie einfach nur konsequent ist oder ein Beispiel dafür, wie man die Gesundheitsversorgung bedürftiger Menschen kollektiv nach unten nivelliert? Man kann dazu sagen, dass eine Schwelle von 100.000 Franken in etwa den Vorstellungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für wohlhabende Länder entspricht (100.000 bis 140.000 Dollar/Jahr) und immer noch das 2–3-Fache jenes Grenzwerts ausmacht, den das National Institute for Clinical Excellence (NICE) in Großbritannien seinen Berechnungen zugrunde legt: Dort dürfen QUALYS (bei guter Lebensqualität gewonnenen Lebensjahre) einen Betrag von 30.000–50.000 Pfund pro Jahr nicht überschreiten. Die Chuzpe daran ist, dass dieser Schwellenwert offenbar auf Berechnungen aus dem Jahr 1982 beruht und seitdem keine Preissteigerungen mehr berücksichtigt wurden. Wäre dem so, müsste NICE seine QUALYS heute mit etwa 200.000 Pfund veranschlagen (Richard Sullivan et al., Lancet Oncology 2011).
Professor Michael Krainer brachte zum Auftakt der Diskussion im Billrothhaus als „advocatus diaboli“ das Beispiel eines Lehrenden an der Harvard Medical School, des Chirurgen Atul Gawande, der in einer Abschlussrede vor Medizinstudenten auf die geänderten Rahmenbedingungen einging, mit denen Ärzt e heute konfrontiert sind, sozusagen vom Aderlass bis zur zielgerichteten Therapie, d. h. von einer Zeit, in der ärztliche Autoritäten alle Schlüsselinformationen ihrer Patienten in Händen hielten bis zur evidenzbasierten Medizin, wo Subspezialisierungen Teamwork erfordern. Dabei würden die besten Ergebnisse nicht von den teuersten Institutionen erzielt, sondern dort, wo Teamwork systematisch praktiziert wird (wofür Tumorboards ein gutes Beispiel sind). In einem System endlicher Ressourcen wäre von Ärzten Kostenbewusstsein gefordert, nachdem sämtliche über Steuermittel finanzierte Ausgaben wie Zahnräder ineinandergreifen – und das in ungeahnter Weise: So fühlte sich der Chirurg in den USA letztlich mitverantwortlich für eine von ihm zuvor noch beanstandete Entwicklung, nämlich die Reduktion von Lehrfächern bei sinkender Lehrerzahl und gleichzeitig steigender Schülerzahl in der Klasse seiner Kinder. Mitverantwortlich deswegen, weil ihm zu Ohren kam, dass der größte Teil des Schulbudgets von den Gesundheitskosten einiger weniger schwerkranker Lehrer aufgebraucht wurde, etwa von einer an Lymphdrüsenkrebs erkrankten Lehrerin, die, wie sich herausstellte, Patientin von Gawande war. Daher also das reduzierte Lehrangebot, über das sich Gawande als Vater zuvor noch im Direktorat beschwerte, für das er sich als Arzt aber mitverantwortlich fühlte – dazugesagt in einem Land, in dem mehr als 30 Millionen Menschen bislang nicht versichert sind und erst jetzt Zugang zu einer Krankenversicherung erhalten sollen.
Damit war die Diskussion – wie intendiert – endgültig eröffnet, wobei vor allem die Befürchtung geäußert wurde, dass bei allfälligen Rationierungen die Verantwortung darüber, wer eine Therapie bekommt und wer nicht, auf den Arzt abgewälzt wird. Weiters wurde festgehalten, dass schleichende Rationierungen bereits stattfinden, auch wenn sie nicht transparent sind. Als Weg zu mehr Transparenz wurde eine exaktere Definition dessen gefordert, was notwendig und was zweckmäßig ist (wenn laut ASVG eine Krankenbehandlung ausreichend und zweckmäßig sein muss, das Maß des Notwendigen jedoch nicht überschreiten darf). Möglicherweise wäre das eine Aufgabe, der sich Ethiker annehmen sollten. Auf der anderen Seite stand außer Streit, dass ärztliches Handeln einer Patienten- und nicht Ökonomie-orientierten Prämisse folgen muss. Es gab einen breiten Konsens darüber, dass von ärztlicher Seite vor allem die therapeutischen Möglichkeiten interessant sind, die es vor Jahren noch nicht gab. So ist im Vergleich zur früheren Hormontherapie beim Prostatakarzinom heute ein Spektrum an lebensverlängernden Substanzen verfügbar. Diese würden laut Primarius Wolfgang Loidl mit einer weit höheren Lebenserwartung einhergehen als es in den Zulassungsstudien selbst zum Ausdruck kommt, und zwar deswegen, weil alle Substanzen zunächst in sehr späten Therapielinien, z. B. bei PSA-Werten von 100 oder mehr geprüft werden. „Der frühere Einsatz wird eine weitere Lebensverlängerung nach sich ziehen, die derzeit gar nicht abschätzbar ist.“ (Primarius Loidl) Von Professor Manuela Schmidinger wurde eindrucksvoll dargelegt, dass mit der Verfügbarkeit innovativer Substanzen in sequenzieller Abfolge Jahre an Lebenszeit gewonnen werden (vgl. Kasten, Onkologischer Fortschritt am Beispiel des Nierenzellkarzinoms). Aber selbst wenn der Gewinn an Überlebenszeit in einer einzelnen Studie nicht darstellbar ist – z. B. weil Patienten der Kontrollgruppe aus ethischen Gründen die bestmögliche Therapie erhalten, also auch die neuuntersuchte Therapie, sobald sich diese in Zwischenauswertungen als erfolgreich herausstellt – so ist es in der Medizin nicht ungewöhnlich, wenn sich das volle Potenzial einer Substanz erst nach längerer Anwendungserfahrung herauskristallisiert und nicht schon mit der Zulassung erreicht ist. Dass die Lebensqualität auch eine Rolle spielt, wurde nicht zuletzt von Professor Heinz Gisslinger in die Diskussion eingebracht.
Wenn man akzeptiert, dass der Aufwand für die Marktreife neuer Therapien gestiegen ist – obwohl Entwicklungskosten meist pauschal beziffert werden und im Einzelfall gar nicht nachvollziehbar sind –, dann lässt sich als Diskrepanz erkennen, dass mit dem höheren Aufwand nicht zugleich auch mehr Therapien auf den Markt kommen (im Gegenteil ist in den letzten Jahren sogar ein Rückgang feststellbar, was in der Konzentration auf einzelne Tumoren überraschen mag). Sodass ein Return of Investment nicht auf viele Substanzen verteilt, sondern in wenigen gebündelt wird, was bei anhaltendem Trend keine Senkung der Medikamentenkosten erwarten lässt. Dennoch ist der Aufwand evidenzbasierter Prüfung wünschenswert und kommt Patienten zugute, wie Univ.-Prof. Dr. Michael Krainer am Beispiel von Ketoconazol ausführte. Ketoconazol war das erste oral anwendbare Antimykotikum und ist seit 1981 im Handel. Später wurde herausgefunden, dass hochdosiertes Ketoconazol die Testosteronproduktion sowohl der Hoden als auch der Nebennieren hemmt und damit zur Behandlung von Prostatakarzinomen geeignet sein könnte. Abirateron, eine der neuen Substanzen mit Überlebensvorteil beim Prostatakarzinom, ist Ketoconazol nicht unähnlich, was den Wirkmechanismus betrifft. Professor Krainer: „Der Unterschied ist aber der, dass das Antimykotikum in dieser Indikation nie in der Weise beforscht wurde wie Abirateron. D. h. das, was das innovative Medikament mehr kostet, wird über die Generierung evidenzbasierter Daten tatsächlich in die Sicherheit der Patienten investiert.“
Als Österreich-spezifisches Kriterium soll in dieser Diskussion nicht auf die Tatsache vergessen werden, dass der zunächst kostenintensive Originator nach Ablauf des Patents auf das Preisniveau des Generikums absinkt, was von der Industrie als Abwärtsspirale beschrieben wird, andererseits aber Mittel für Innovationen freimacht. Dazu kommt ein gesellschaftspolitisches, nicht auf die Onkologie beschränktes Phänomen, dass Medikamentenforschung beinahe zur Gänze aus dem akademischen Betrieb auslagert und der Industrie anvertraut wurde. Auch das hat seinen Preis. Wahrscheinlich wären akademische Institutionen mit den heutigen Zulassungsregularien überfordert. Es sind aber auch öffentliche Gelder – z. B. in Form einer Beteiligung an kostenintensiven Phase-III-Studien – die Ausnahme. Vorteile einer solchen Beteiligung wären die größere Kenntnis der untersuchten Substanz zu einem früheren Zeitpunkt (dadurch mehr Einblick in spätere Kosten-Nutzen-Abwägungen) und mehr Möglichkeiten zur Einflussnahme auf jene Aspekte, die für Ärzte interessant sind. So kann man immer wieder nur festhalten, dass die Leistungen der forschenden Industrie beträchtlich sind – dass es sich in letzter Konsequenz aber um börsennotierte Unternehmen handelt.
Laut einem Lancet Oncology „Commission Statement“ sollen im Jahr 2030 weltweit 27 Millionen Menschen von Krebs neu betroffen sein (R Sullivan et al., Lancet Oncology 2011). Derzeit wird die Diagnose jährlich bei 12 Millionen Patienten weltweit gestellt, jedes Jahr sterben mehr als 7,5 Millionen Menschen an der Erkrankung. Der Anstieg onkologischer Erkrankungen im Zusammenhang mit einer heute höheren Lebenserwartung – z. B. als Konsequenz erfolgreicher Präventions- und Therapiemaßnahmen im Herzkreislaufbereich – ruft Gesundheitssysteme auf den Plan, die Kosten prognostizieren und steigende Ausgaben feststellen. Demgegenüber stehen signifikante ökonomische Einbußen durch tumorassoziierte Morbidität und vorzeitige Mortalität, weshalb der Krebsforschung in einem kompetitiven sozialen Umfeld hohe Priorität eingeräumt wird. Auf der einen Seite sollen Therapien wirksamer und nebenwirkungsärmer werden, auf der anderen Seite trägt der Preis für Innovationen weiter zu den Kosten bei. Dabei gibt es einen klaren Zusammenhang zwischen dem Zugang zu innovativen Substanzen und dem Gesamtüberleben von Krebspatienten. Wenn man Tumorerkrankungen einen hohen gesellschaftlichen Stellenwert einräumt, kann die Lösung aus ethischer Sicht nur in der Verfügbarmachung der entsprechenden Mittel bestehen. Nicht vorstellbar ist, dass man zwar einerseits stolz auf die höhere Lebenserwartung ist, andererseits aber die mit der demografischen Entwicklung einhergehenden Probleme nicht würdigt. Wenn darüber ein Grundkonsens herrscht, kann man sich dem gerechten und effizienten Einsatz der Mittel in der Onkologie widmen.
Die heute beim Prostatakarzinom verfügbaren Substanzen werden mit einer weit höheren Lebenserwartung einhergehen als es in den Zulassungsstudien bereits zum Ausdruck gekommen ist. Der Grund liegt darin, dass alle Substanzen zunächst in sehr späten Therapielinien geprüft wurden. Der frühere Einsatz wird eine weitere Lebensverlängerung nach sich ziehen, die derzeit gar nicht abschätzbar ist.
In der Zytokin-Ära des Nierenzellkarzinoms war mit Interferon ein progressionsfreies Überleben von 5 Monaten möglich, das Gesamtüberleben blieb unbeeinflusst. Mit neuen Substanzen leben Patienten viele Jahre nach Diagnose eines metastasierten Tumors. Die Kosten des alten Therapiestandards betrugen für den erwarteten Behandlungszeitraum von median 5 Monaten etwa 5.000 Euro. Das ist relativ wenig Geld im Vergleich zu den neuen Therapien, andererseits auch relativ viel Geld für wenig Nutzen.
Ältere Medikamente wurden nie in der Weise beforscht wie neue Therapien, die höhere Entwicklungskosten haben. Das, was innovative Medikamente einer speziellen Indikation mehr kosten, wird über die Generierung evidenzbasierter Daten auch in die Sicherheit der Patienten investiert.