Indikation, Einwilligung und Sorgfaltspflicht

Unter kardiopulmonaler Reanimation (Cardiopulmonary Resuscitation – CPR) versteht man die Bemühungen zur Wiederherstellung eines Spontankreislaufs und der spontanen
Atemtätigkeit durch Anwendung von 1. Thoraxkompression + Beatmung („basic life
support“) und 2. Defibrillation mittels Elektroschock + Medikation („advanced life support“).

Medizinische Behandlungen sind durch drei Legitimationskriterien gerechtfertigt:
1. Indikation
2. Einwilligung
3. Sorgfaltspflicht

Im medizinischen Fachdiskurs ist häufig zu hören, dass eine Maßnahme „keinen Sinn“ macht oder „sinnlos“ sei. Wenn man davon ausgeht, dass „Sinn“ etwas ist, das die „Deutung des Verhältnisses, in dem ein Mensch zu seiner Welt steht“ (Paul Tiedemann, 1993) betrifft, wird erkennbar, dass diese Frage über den medizinischen Kontext hinausgreift. Sinn ist eine Kategorie der persönlichen Weltanschauung. Der Entscheidungsprozess zu einer medizinischen Behandlung ist besser von den Fragen geleitet: „Kann diese Therapie ihr Ziel erreichen?“, „Was ist das Ziel der Therapie und wer hat das Recht, es zu definieren?“.

Indikation

„Eine Indikation ist gegeben, wenn eine Maßnahme mit dem Blick auf das Therapieziel für einen individuellen Patienten notwendig und wirksam ist“ (Winkler, 2010). Das Therapieziel stellt einen erstrebenswerten und umfassenden Nutzen für eine Person dar.
Eine CPR kann durch die Wiederherstellung von Herzrhythmus und Atmung physiologisch wirksam sein. Darüber hinaus ist sie erfolgreich, wenn sie ein Überleben ohne wesentliche Organfunktionsstörungen bei unbeeinträchtigten Persönlichkeitsmerkmalen ermöglicht. Erfolgreich kann eine CPR sein, wenn eine potenziell reversible Störung oder behandelbare Umstände vorliegen und keine unmittelbar das Leben begrenzenden Erkrankungen bestehen. Diabetes mellitus, Psoriasis vulgaris, senile Makulopathie (u. v. m.) sind allesamt nach gegenwärtigem Wissenstand als unheilbar zu klassifizieren. Es ist augenscheinlich ungerecht, alle mit unheilbaren Erkrankungen lebenden Menschen von lebensrettenden Maßnahmen auszuschließen. Den Fortschritten der onkologischen Therapien ist es zu verdanken, dass z. B. gewisse Formen metastasierter Karzinome (Mamma-Ca, Kolorektal- Ca etc.) auch in weit fortgeschrittenen und metastasierten Stadien ein oft über Jahre nahezu unbeeinträchtigtes Leben hinsichtlich körperlicher und psychosozialer Funktionen und subjektiv guter Lebensqualität ermöglichen können.
Die Indikation zu lebensverlängernden medizinischen Therapien entfällt, wenn ein Mensch infolge einer unheilbaren, zum Tode führenden Erkrankung in die letzte Phase dieser Erkrankung eingetreten ist (wenn das Sterben begonnen hat) bzw. wenn es nach ärztlichem Ermessen keine Aussicht gibt, dass eine Therapie zu diesem Zeitpunkt ihr Ziel erreichen kann. Da keine allgemein verbindliche Übereinkunft darüber besteht, wann das Sterben beginnt, hat Jonen-Thielemann zum Nutzen einer Sprachregelung „Phasen des Sterbens“ definiert (> Tab. 1). In den letzten Jahren wurden unzählige Belege dafür erbracht, dass in den letzten Lebensmonaten von Menschen Therapieexzesse und -eskalationen wirksam werden. Dem Sterben gehen häufig unangemessen aggressive und belastende Therapien voran. Häufig sind sie durch ärztliche Fehleinschätzungen hinsichtlich der Prognosen bedingt, durch medikolegale Defensivstrategien (Angst vor juristischer Verfolgung bei Unterlassen) und durch das systemimmanente Desinteresse an den Werten, Bedürfnissen und Prioritäten der PatientInnen und ihrer Angehörigen.

 

End-of-Life-Gespräche („EOL discussions“) sind hinsichtlich einiger Ergebnisse enorm wirk- sam: Sie reduzieren die Wahrscheinlichkeit von unangemessen aggressiven Therapien am Lebensende (CPR, Operationen, Intubation + Beatmung, Aufenthalte an Intensivstationen, nicht zielführende onkologische Therapien). Wesentlich ist das Erkennen und Anerkennen des Umstandes, dass das Leben begrenzt ist. Von dem Moment an, an dem nicht (unerreichbare) Zeitquanten die Perspektiven der Betroffenen erfüllen, kann der Fokus auf Lebensqualität gelenkt werden (Gawande, 2010). EOL-Gespräche könnten auch „Zukunftsgespräche“ genannt und in ruhiger Atmosphäre mit dem Satz eröffnet werden: „Was wäre für Sie wichtig, wenn Sie nur mehr wenig Zeit hätten?“ „Der Patient ist der Experte für seine Werte, Ziele und Präferenzen, der Arzt ist der Experte für die Mittel, welche die Perspektiven des Patienten würdigen“ (Andrew-Billings, 2011).
Eine CPR sollte nicht angeboten werden, wenn sie – basierend auf den Kriterien des Patienten – in der Nutzen- Schaden-Abwägung vom Patienten ungünstig bewertet wird (Andrew-Billings, 2011). Murphy konnte nachweisen, dass 56 % älterer Patienten (60–99 Jahre) eine CPR ablehnen. Wenn ihnen die Informationen über die Ergebnisse des Verfahrens bereitgestellt werden, lehnen 78 % das Verfahren ab. Angesichts einer chronischen Erkrankung mit einer Lebenszeitaussicht von weniger als 1 Jahr lehnen 95 % der älteren Menschen eine CPR ab (Murphy, 1994).
Fried und Mitarbeiter (Fried, 2002) führten Interviews mit 226 älteren Patienten, die an Erkrankungen litten, welche die Lebenszeit limitierten (Krebs, kardiale Insuffizienz, COPD). Sie konnten zeigen, dass nicht eine Intervention an sich, sondern das Ergebnis der Intervention und die Wahrscheinlichkeit ihres Auftretens die Patientenpräferenzen bestimmen. So zeigte sich, dass Therapien, die mit hoher Wahrscheinlichkeit zu kognitiven Einbußen führen, von 90 % der Patienten abgelehnt werden. Auch das Ausmaß der mit Therapien verbundenen Belastungen (Krankenhausaufenthalt, ICU-Aufenthalt, schmerzhafte Eingriffe, Trennung von den Angehörigen etc.) beeinflusst die Entscheidungen zu Therapien bei Menschen mit lebenslimitierenden Erkrankungen. Funktionalität und kognitiver Zustand scheinen die wichtigsten Determinanten zu sein.

Das Outcome nach CPR ist in den letzten 30 Jahren nahezu unverändert geblieben: Die Wahrscheinlichkeit, nach einer Reanimation, die nach Herz-Kreislauf-Stillstand außerhalb eines Krankenhauses begonnen wird (Out-of- Hospital Cardiac Arrest – OHCA), lebend das Krankenhaus zu verlassen, beträgt im Mittel 10,7 % (alle initialen Rhythmen/in der Subgruppe mit Kammerflimmern 21,2 %) – beim IHCA (In-Hospital Cardiac Arrest) 17,6 % (Kammerflimmern 37 %) (Nolan, 2010). Mit anderen Worten: Die Wahrscheinlichkeit, dass der Tod die Folge eines Herz-Kreislauf-Stillstandes ist, beträgt 82,4–89,3 %, wenn der initiale Rhythmus nicht Kammerflimmern ist. Von jenen, die nach CPR ein Krankenhaus lebend verlassen, haben nach 3 Monaten 75 % eine gute körperliche, geistige und seelische Verfassung und eine gute Lebensqualität (SIP), 17 % sind kognitiv beeinträchtigt, 16 % leiden an Depressionen – wobei das Ergebnis mit den Gesundheitsbedingungen vor Ereignis korreliert. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine CPR in einen „persistant vegetative state“ führt, wird mit 3 % angegeben (de Vos, 1999).
Mit zunehmender Komorbidität (Karzinome, kardiale Insuffizienz, Leber- und Nierenfunktionsstörungen, Diabetes, COPD, Hypertonie, Abhängigkeitssyndrome etc.) reduziert sich die Wahrscheinlichkeit, nach CPR lebend ein Krankenhaus zu verlassen (Carew, de Vos, 1999). Das Alter selbst ist nur ein schwacher unabhängiger Prädiktor der CPR-Mortalität (Herlitz, 2005). Bei chronisch kranken älteren PatientInnen beträgt die Wahrscheinlichkeit einer Spitalsentlassung nach CPR 0–5 % (Awoke, 1992).
Reisfield hat das Reanimations-Outcome bei Karzinompatienten in einer Metaanalyse anhand von 42 Studien (1.707 Patienten) untersucht (Reisfield, 2006). Dabei zeigte sich, dass sich die Hospitals-Entlassungsrate nach CPR von Krebspatienten bei hohen Werten in der Karnofsky Performance Scale (KPS) nicht wesentlich von der Gesamtpopulation unterscheidet. Bei Vorliegen eines KPS von weniger als 50 % (behindert, qualifizierte Hilfe wird benötigt) sinkt die Wahrscheinlichkeit abrupt auf 2,3 %, dass der Patient lebend das Krankenhaus verlassen kann (> Tab. 2). Reisfield weist darauf hin, dass Metastasierung kein Prädiktor für eine Aussichtslosigkeit der CPR ist.
Bislang konnten keine verlässlichen medizinischen Faktoren identifiziert werden, welche die Aussichtslosigkeit einer CPR verlässlich vorhersagen können (Lippert, 2010) – d. h. auch unter dem Kollektiv mit sehr belastenden Komorbiditäten gibt es Individuen, die gegen jede Wahrscheinlichkeit durch CPR überleben können.
Umso mehr ist es bedeutsam, bei die Lebensdauer begrenzenden Erkrankungen die Patientenperspektive zu suchen, ehe es zu einer Situation kommt, in der diese Sicht nicht mehr evaluiert werden kann. Konkret handelt es sich nicht nur um Malignomerkrankungen, sondern z. B. um COPD im GOLD-Stadium 4, kardiale Insuffizienz im NYHA-Stadium IV, terminales Nierenversagen, Leberzirrhose Child C oder die beginnende Demenz.


Einwilligung

Jeder Mensch hat das Recht, seine Einwilligung in eine medizinische Therapie zu verweigern, vorausgesetzt er ist hinreichend kompetent zum Zeitpunkt der Entscheidung (Einwilligungsfähigkeit). Das Recht auf Verweigerung erstreckt sich auch auf Therapien, die lebensverlängernd sein können, und auf Therapien, die medizinisch vernunftbegründet und indiziert sind. Der Gesetzgeber gesteht uns damit ein „Recht auf Unvernunft“ zu. Aus ethischer Sicht konfliktiert hier das Prinzip der Autonomie und das Prinzip der Benefizienz (Wohltun, Fürsorgepflicht). Im Entscheidungsprozess sind alle Beteiligten aufgerufen, Verantwortung zu übernehmen, um das Recht auf Selbstbestimmung bei einem Menschen mit lebenszeitbegrenzender Erkrankung zu respektieren und in einem deliberativen Entscheidungsprozess zu würdigen. Wesentliche Wendepunkte werden im Rahmen von stationären Aufenthalten augenscheinlich werden (Diagnose, Progress, Krise, Nichtansprechen von Therapien), was die Verantwortlichkeit der Institutionen aufruft. Wesentliche Themen im Langzeitverlauf und aus dem Wertekatalog der Person werden beim Allgemeinmediziner angesprochen, was seine Verantwortlichkeit reklamiert. Die Förderung und Unterstützung der Patienteninteressen mit den vorhandenen Instrumenten (Patientenverfügung, Vorsorgevollmacht) ist mit Nachdruck zu fordern.

Sorgfaltspflicht

Als dritten Legitimationsgrund für das Einleiten oder Fortführen einer medizinischen Therapie ist die Pflicht zur sachkundigen Ausführung zu nennen. In diesem Zusammenhang möchte ich nicht die Guidelines der CPR aufrufen, sondern die Sorgfaltspflicht der behandelnden Ärze, welche Therapiebegrenzungen veranlassen. Die DNR-Gebarungen (Do Not Resuscitate) in Österreich erlaube ich mir (mit Ausnahmen) als eine „nationale Katastrophe“ zu bezeichnen: der Patient wird kaum je in Entscheidungsprozesse zum DNR-Status involviert, die Beschränkungen werden häufig nicht begründet, die Dauer eines DNR-Codes ist nicht zeitlich determiniert etc. In diesem Zusammenhang ist auszusprechen, dass auch die Institutionen und Organisationen Verantwortung tragen, welche nach meinem Wissen bisher die Vinzenz-Gruppe als exemplarisch positives Beispiel durch Implementierung einer DNR-Richtlinie nachgekommen ist. Bislang ist – in Analogie zu Loertscher (Loertscher, 2010) – ein DNR-Status eher ein Surrogatmarker für den nahenden Tod als ein Ergebnis eines Entscheidungsprozesses.

Die Krise – der Notfall – Herz-Kreislauf-Stillstand

Für den Fall, dass bei einem Menschen ein Herz-Kreislauf-Stillstand auftritt und ein Arzt berufen wird, ist davon auszugehen, dass der Mensch in eine CPR einwilligt, wenn nicht schlüssige Informationen vorliegen, dass die Indikation zur CPR wegfällt oder der Betroffene die potenziell lebensrettenden Maßnahmen ablehnt („In dubio pro vita“-Regel). Bei unklarer Situation zur Erreichbarkeit eines Therapieziels und unbekanntem Patientenwillen lautet die Empfehlung: „Resuscitation should begin immediately and questions addressed later.“ Da jede Therapie einer fortwährenden Rechtfertigung bedarf, kann auch eine CPR jederzeit beendet werden, sobald erkennbar wird, dass dazu die Legitimationsgründe fehlen (Beenden der Therapie ist juristisch und ethisch gleichwertig wie Nichtbeginn der Therapie).

Zukunftsperspektiven – Lösungsansätze

Da es eine nicht zu vernachlässigende Anzahl von Notärzten gibt, die in irriger Weise davon ausgeht, dass „man immer reanimieren muss“, wird empfohlen, Inhalte wie Ethik der Reanimation, Symptomlinderung am Lebensende, Grundzüge der Palliative Care, Medizinrecht in die neuen Curricula zur Notarztausbildung aufzunehmen. Notärzte haben tatsächlich häufig ein Informationsdefizit zur Patientensituation am Notfallort, welches als „nichtzufällig“ bezeichnet werden kann. Pflegedienste, Hausärzte sowie Ärzte in Pflegeheimen sollten die Notärzte dahingehend unterstützen, dass sie relevante patientenseitige Informationen am Notfallort vorfinden können – als Instrument wäre z. B. der Göttinger Notfallbogen dienlich. Menschen mit lebensbegrenzenden Erkrankungen sollten ermuntert und unterstützt werden, EOL-Gespräche zu führen und ihre Werte, Vorlieben und Ziele in Patientenverfügungen abzubilden. Wenn Patientenverfügungen eingerichtet sind, könnten diese bei den Rettungsleitstellen in den Datensätzen hinterlegt werden. Im konkreten Fall könnte der Notarzt bereits auf Anfahrt über wesentliche medizinische Fakten und das Vorliegen von patientenseitigen Beschränkungen informiert werden. Krankenhäuser sei empfohlen, Ethikgremien und insbesondere DNR-Richtlinien einzurichten. Die Interessen der größer werdenden Zahl von Demenzkranken sind auch im Bereich der Forschung nicht gewürdigt. Zur Fragestellung „Reanimation beim schwer Demenzkranken“ finden sich kaum Literaturbelege.

FACT-BOX

• Die Entscheidung für oder gegen Reanimation ist immer eine Einzelfallentscheidung – in dubio pro vita.
• Das Recht auf Selbstbestimmung ist zu würdigen und zu fördern (End-of-Life- Gespräche, Patientenverfügung).
• Die Implementierung von DNR-Richt – linien sollte in allen Organisationen zum Standard of Care gehören.
• Die Legitimationsgründe für medizinische Behandlungen sind Indikation, Einwilligung und Sorgfaltspflicht.

Literatur:

– Tiedemann P.: Über den Sinn des Lebens. Die perspek tivische Lebensform. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1993, S. 4
– Winkler E.C., Ethik Med 2010; 22:89-102
– Jonen-Thielemann I.: Sterbephasen in der Palliativ – medizin. In: Aulbert E., Nauck F., Radbruch L. (Hrsg.): Lehrbuch der Palliativmedizin. 2. Aufl. Stuttgart: Schattauer; 2007; 1019-1049
– Gawande A.: Letting go. The New Yorker 2010, http://www.newyorker.com/reporting/2010/08/02/100802 fa_fact_gawande
– Andrew-Billings J., Krakauer E.L., Arch Int Med 2011; 171:849-53
– Murphy D.J. et al., NEJM 1994; 330:545-9
– Fried T.R. et al., NEJM 2002; 346:1061-1066
– Nolan J.P. et al., Resuscitation 2010; 1219-1276
– Carew H.T. et al., Heart 2007; 93:728-31
– De Vos R. et al., Arch Intern Med 1999; 159:249-254
– De Vos R. et al., Arch Intern Med 1999;159:845-50
– Herlitz J. et al., Am Heart J 2005; 149:61-5
– Awoke S. et al., J Am Geriatr Soc 1992; 40:593-5
– Reisfield G.M. et al., Resuscitation 2006; 71:152-160
– Lippert F.K. et al., Resuscitation 2010; 81:1445-51
– Loertscher L. et al., Am J Med 2010; 123:4-9