Der Viszeralschmerz – Herausforderung: Schmerzzustände funktioneller Genese

Es ist jedoch zu beachten, dass häufig bei Patienten mit chronischen oder chronisch-rezidivierenden Bauchschmerzen, auch nach Anwendung aller derzeit zur Verfügung stehenden diagnostischen Maßnahmen, ein fassbares organisches Substrat nicht nachgewiesen werden kann.

Akuter Abdominalschmerz

Ein plötzlich auftretender, heftiger Abdominalschmerz stellt eine akute Notfallsituation dar, die der unverzüglichen Abklärung und anschließend, soweit möglich, der Behebung der auslösenden Ursache bedarf. Dieser akute Abdominalschmerz ist zunächst noch nicht mit dem Vollbild des so genannten “akuten Abdomens” gleichzusetzen, wenngleich er in einer nicht unerheblichen Zahl der Fälle in dieses Zustandsbild übergehen kann.
Der akut auftretende Abdominalschmerz ist, wenn er etwa durch einen Dehnungsreiz eines Hohlorgans ausgelöst wird, zunächst ein Schmerzreiz aus dem Peritoneum viscerale und damit von der Lokalisation her nicht exakt zuzuordnen. Ein viszeral-peritonealer Schmerzreiz projiziert sich entweder in den Oberbauch, meist rechtsseitig, oder diffus in den linken Mittel- und Unterbauch, abhängig davon, ob sich die Läsion oral oder aboral des Cannon-Böhm’schen Punktes befindet, der in etwa im Bereich der linken Kolonflexur angenommen wird. Es handelt sich dabei um die Übergangszone vom parasympathischen Innervationsgebiet des Nervus vagus zum Innervationsgebiet des Parasympathicus der sakralen Nervi splanchnici pelvici des Rückenmarks.
Erst wenn es zur Ausbildung einer entzündlichen Gewebeschädigung kommt – und damit zu einer Reizung des Peritoneum parietale -, wird der Schmerz exakt im Bereich der Bauchdecke lokalisierbar. Verbunden mit diesem Fortschreiten der entzündlichen Reizung ist die zunehmende reflektorische Anspannung der Bauchmuskulatur in diesem Bereich, die so genannte peritoneale Abwehrspannung oder “Defence”. Erst jetzt ist das klinische Vollbild des “akuten Abdomens” gegeben.

Appendizitis: Ein anschauliches Beispiel dieses pathophysiologischen Ablaufs stellt die klassische Anamnese der Appendizitis dar. Typischerweise geht ein diffuser epigastrischer oder periumbilikal wahrgenommener Schmerz nach einer gewissen Zeit in einen exakt im rechten Unterbauch lokalisierbaren und dann meist auch mit einer regionalen Defence verbundenen Schmerz über.

Schmerz beim Kind: Eine besondere Situation ist bei der Beurteilung des akuten Abdominalschmerzes beim Kind gegeben. Kleinkinder projizieren Schmerzen sehr häufig auch dann in den Bauchbereich, wenn die Ursache extraabdominal gelegen ist, wie zum Beispiel Halsschmerzen. Erst etwa ab dem 12. Lebensjahr ist die Zuordnung der Schmerzwahrnehmung mit der des Erwachsenen vergleichbar.

Chronischer/rezidivierender Abdominalschmerz

Abhängig von den Ergebnissen der differenzialdiagnostischen Abklärung unterscheiden wir in Patienten mit oder ohne fassbares morphologisches Substrat. Auch bei nachgewiesenem pathologischen Befund besteht jedoch in auffallender Weise nicht immer eine klare lineare Beziehung zwischen dem Ausmaß der sichtbaren Schädigung und dem Beschwerdebild (ein dafür charakteristisches Organ ist der Magen; Studien belegen bezüglich des peptischen Ulcus auffallende Diskrepanzen zwischen endoskopischem Befund und erwarteter Diagnose aufgrund der Klinik).
Abdominalschmerz ist aufgrund der Vermittlung über Afferenzen aus dem Peritoneum viscerale häufig nicht sehr spezifisch. Die exakte Erhebung der Anamnese spielt daher eine entscheidende Rolle, um die differenzialdiagnostische Abklärung in die richtige Richtung zu lenken. Dabei sollten natürlich auch seltene und vor allem extraabdominelle Auslöser der Schmerzen wie Herzinfarkt und Lungenembolie ebenso wenig übersehen werden wie gynäkologische Erkrankungen (Abb., ohne Anspruch auf Vollständigkeit; diesbezüglich wird auf die entsprechenden Lehrbücher der inneren Medizin, Chirurgie, Gynäkologie und Urologie etc. verwiesen).
Erst nach Ausschluss aller intraabdominal in Frage kommenden Ursachen sollte die Abklärung bezüglich einer radikulären oder pseudoradikulären Schmerzirradiation erfolgen (wobei auch die Klinik des Wurzelkompressionssyndroms nicht linear mit den radiologisch erhebbaren Befunden korreliert). Nahezu die Hälfte der Patienten mit chronischem oder chronisch-rezidivierendem Abdominalschmerz bleibt auch nach Ausschöpfung aller schulmedizinischen diagnostischen Möglichkeiten ohne Diagnose und wird unter dem Begriff der “funktionellen Störung” eingereiht (Tab.).

Funktionelle Störungen: Im Vordergrund stehen dabei Zustandsbilder, die mit Beschwerden im Oberbauch einhergehen. Sie werden als funktionelle Dyspepsie bezeichnet und weisen in der Bevölkerung eine Prävalenz von 7 bis 41% auf, je nach Region bzw. Studie (in industrialisierten Nationen durchschnittlich ca. 25%, in Deutschland etwa 29%). Beschwerden, die die Defäkation oder die Stuhlfrequenz betreffen, werden unter dem Begriff des Reizdarms (IBS – Irritable Bowel Syndrome) subsumiert, mit einer in der Literatur angegebenen Prävalenz von 6-25%. Der chronische Charakter der Beschwerden wird klassifiziert durch das Auftreten an mindestens 3 Tagen im Monat während der letzten 3 Monate und einen Beginn der Symptome mindestens 6 Monate vor der Diagnose (Rom-III-Kriterien). Gemeinsam ist diesen von der Symptomatik her doch unterschiedlichen funktionellen Beschwerden eine verminderte viszerale Wahrnehmungsschwelle und damit verbundene Dysmotilität mehrerer viszeraler Organe. Es wird vermutet, dass die Ursache in einer fehlerhaften Verarbeitung der viszeralen Afferenzen im Bereich des enterischen und/oder des zentralen Nervensystems liegt (Störung der Darm-Hirn-Achse mit autonomer Dysfunktion und viszeraler Hypersensitivität).

Tab.: Funktionelle gastrointestinale Erkrankungen

Ösophagus-erkrankungen

Gastroduodenale Erkrankungen

Darm-erkrankungen

Funktionelle abdo-minelle Schmerzen

Biliäre Erkrankungen

Anorektale Erkrankungen

  • Globusgefühl
  • Ruminationssyndrom
  • funktionelle Brustschmerzen ösophagealer Ursache
  • funktionelles Sodbrennen
  • funktionelle Dysphagie
  • unspezifische funktionelle Ösophaguserkrankung
  • funktionelle Dyspepsie: -PDS (post-prandial distress syndrome) -EPS (epigastric pain syndrome)
  • unspezifische Dyspepsie
  • Aerophagie
  • Reizdarm:
  • funktionelle Obstipation
  • funktionelle Diarrhöen
  • funktionelles Völlegefühl/ aufgeblähter Leib
  • unspezifische funktionelle Darmerkrankungen
  • funktionelles abdominelles Schmerzsyndrom
  • unspezifische funktionelle abdominelle Schmerzen
  • Gallenblasendysfunktion
  • Sphinkter-Oddi-Dysfunktion
  • funktionelle Inkontinenz
  • funktionelle ano-rektale Schmerzen
  • Levator-ani-Syndrom
  • Proctalgia fugax
  • Dyschezie
  • Beckenbodendyssynergie
  • Dysfunktion des internen Analsphinkters
  • unspezifische funktionelle anorektale Erkrankungen

Therapeutische Optionen

Sowohl beim akuten als auch beim chronischen bzw. chronisch-rezidivierenden Viszeralschmerz ist bei eindeutig diagnostizierter Ursache natürlich die kausale Therapie anzustreben, ob chirurgisch oder medikamentös. Begleitend mit der differenzialdiagnostischen Abklärung geht eine symptomatische Analgesie einher, sofern diese nicht das klinische Erscheinungsbild verschleiert und damit die Diagnosefindung behindert. Ziele der medikamentösen Therapie sind symptomatisch: Analgetika (im Sinne der Ausschaltung der viszeralen Afferenzen) bzw. kausal: funktionelle Beeinflussung der Abläufe des Gastrointestinaltrakts.

Beeinflussung der viszeralen Afferenzen

NSAR: Nicht-steroidale Antiphlogistika haben als Prostaglandinsynthesehemmer in der Behandlung des Viszeralschmerzes dann eine Bedeutung, wenn eine Entzündung vorliegt. Die schleimhautschädigende Wirkung und Nephrotoxizität ist zu berücksichtigen. In der Behandlung funktioneller Beschwerden (IBS) sollten periphere Analgetika (ASS, Paracetamol, NSAR, Metamizol) nicht angewendet werden (Evidenzgrad B/D).

Opioide: Die zentrale Wirksamkeit wird über Stimulation der Endorphinrezeptoren vermittelt und möglicherweise über Blockade der nozizeptiven Impulsübertragung im Rückenmark. Problematisch ist die spasmogene Wirkung am gesamten Gastrointestinaltrakt, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung bei den einzelnen Präparaten. Auch hier gibt es eine negative Empfehlung bezüglich der Anwendung bei IBS (Evidenzgrad A/D bei Agonisten, Evidenzgrad A bei Antagonisten).

Antidepressiva: In der Therapie des chronischen Abdominalschmerzes sind trizyklische Antidepressiva schon in Dosierungen analgetisch, die noch weit unter der antidepressiven Wirksamkeit liegen (Empfehlung für die Anwendung bei funktionellem Bauchschmerz).

Funktionelle Beeinflussung des GI-Trakts

Säuresekretionshemmung: H2-Blocker und PPI stehen zur effizienten Behandlung säureassoziierter Schmerzen zur Verfügung; unabhängig vom Vorliegen makroskopisch sichtbarer Schleimhautläsionen.

Laxantien: Obstipation kann einerseits die Ursache der Schmerzen darstellen, andererseits Nebenwirkung der Opiattherapie sein und stellt zusätzlich bei neurodegenerativen Erkrankungen (wie Mb. Parkinson) ein gravierendes Problem dar. Ballaststoffe in Form wasserlöslicher Gelbildner wie z.B. Flohsamenschalen (Psyllium) zeigten in Metaanalysen einen signifikanten Effekt, im Gegensatz zu wasserunlöslichen Ballaststoffen wie z.B. Weizenkleie. Osmotisch wirksame Substanzen vom Macrogol-Typ wirken effizient bezüglich der Stuhlfrequenz, was durch eine Metaanalyse gesichert ist, haben aber keinen Einfluss auf die Schmerzintensität und werden daher nur mit Evidenzgrad B empfohlen.

Prokinetika: stimulieren die gastrointestinale Motilität; im oberen GI-Trakt sind vor allem Metoclopramid und Domperidon wirksam. Domperidon, ein Dopamin-2-Rezeptor-Agonist, hebt zusätzlich die viszerale Wahrnehmungsschwelle an (sollte aufgrund widersprüchlicher Studienergebnisse aber nicht in der Therapie des Reizdarmsyndroms angewendet werden; hier gibt es Empfehlungen für den 5-HT4-Agonisten Prucaloprid sowie Lubiproston, einen Chloridkanal-Aktivator). Im Falle von therapierefraktären chronischen Darmatonien bei neurodegenerativen Erkrankungen bleiben Parasympathikomimetika häufig die Ultima Ratio. Ein vergleichsweise neuer Therapieansatz der opioidinduzierten Obstipation ist die Therapie mit einem selektiven Opiatrezeptorantagonisten (Methylnaltrexon).

Spasmolytika: N-Butylskopolamin hat seinen Stellenwert vor allem in der Therapie der akuten, krampfartigen abdominalen Schmerzen. Zur Behandlung chronischer abdomineller Beschwerden vor allem funktioneller Genese bietet sich Mebeverin an; hier ist auch die Wirksamkeit von Pfefferminzölpräparaten durch Studien belegt.

Blockadeverfahren: Die Ultraschall- und CT-gezielte Blockade des Plexus coeliacus kommen sowohl palliativ beim Pankreaskarzinom als auch bei chronischer Pankreatitis in Frage.

Stimulationsverfahren: Die transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS) und die Stimulation des Tractus spinothalamicus werden vor allem bei Schmerzzuständen, die durch neuropathische Veränderungen hervorgerufen werden, erfolgreich angewendet.

Psychotherapie: Bei den Abdominalschmerzen funktioneller Genese, vor allem dem Reizdarmsyndrom, ist die Wirksamkeit psychotherapeutischer Maßnahmen zusätzlich zur pharmakologischen Therapie belegt. Dies steht zusammen mit der erwiesenen Wirksamkeit der trizyklischen Antidepressiva in Einklang mit den neurogastroenterologischen Erkenntnissen, dass bei viszeralen Schmerzen die emotionale Komponente bei weitem stärker ausgeprägt ist als bei somatischen Schmerzen.

Zusammenfassung: In der Beurteilung des abdominalen Schmerzes ist zwischen dem akuten und dem chronischen bzw. chronisch-rezidivierenden Beschwerdebild zu unterscheiden und entsprechend der zu Grunde liegenden Ursache nach Möglichkeit die kausale und kurative Therapie anzustreben. Die nach dem Prinzip der Ausschlussdiagnose subsumierte Gruppe der Patienten mit Schmerzzuständen funktioneller Genese, deren Ursache in einer Störung der Verarbeitung von viszeralen Afferenzen oder der Regulation der Motilität vermutet wird, stellt nicht nur aufgrund der hohen Prävalenz, sondern auch hinsichtlich der Therapieoptionen eine besondere Herausforderung dar.