Suchmethoden: Um den schmerzbeeinflussenden Erbfaktoren unter den rund 30.000 Genen eines Menschen auf die Spur zu kommen, werden verschiedene Methoden eingesetzt: Bei der so genannten familiären Koppelungsanalyse machen sich die Forscher zunutze, dass nahe beieinander liegende Gene zusammen vererbt werden. In großen Familien, in denen besondere Schmerzeigenschaften unmittelbar vererbt werden, suchen Wissenschafter nach bekannten Markern im Genom, die nur bei den betroffenen Mitgliedern vorhanden sind. Wenn ein Marker bei Betroffenen deutlich häufiger auftritt als bei Gesunden, liegt er in räumlicher Nähe des relevanten Schmerzgens. Bekannt ist beispielsweise eine pakistanische Familie, in der einzelne Angehörige nicht in der Lage sind, Schmerzen zu verspüren. Die Ursache ist eine Mutation im SCN9AGen. Der Defekt in der Alpha-Untereinheit von Natriumkanälen führt bei den Betroffenen dazu, dass sie nicht mehr angemessen auf gefährliche Umweltreize reagieren können. Verstümmelungen und eine reduzierte Lebenserwartung sind die Folge.
Selbst vor einigen Jahren gab es noch große Zweifel, ob Gene Schmerzen in irgendeiner Form beeinflussen. Inzwischen gibt es unzählige Literaturbeispiele, die belegen, dass das Schmerzempfinden genetisch kontrolliert wird. Erst in jüngster Zeit wurde die Bedeutung genetischer Aspekte im Entstehungsmechanismus von Schmerzerkrankungen sowie bei der Schmerzverarbeitung erkannt. 2006 wurde das erste Mal ein Gen, das so genannte GCH1, mit neuropathischen Schmerzen in Verbindung gebracht (siehe unten).
Wir wissen heute, dass es in der Durchschnittsbevölkerung nicht das eine schmerzkontrollierende Gen gibt. Derzeit kennen wir ungefähr 300 bis 500 Gene, die mit der Schmerzwahrnehmung zusammenhängen. Die individuelle Schmerzempfindung resultiert aus einem komplexen Zusammenspiel der Genprodukte. Dazu kommen aber auch Umwelteinflüsse, die die Ablesbarkeit dieser Gene beeinflussen, ohne die Reihenfolge des genetischen Alphabets zu ändern.
Jene genetischen Faktoren, die genau auf die Schmerzverarbeitung und -chronifizierung einwirken, sind bisher wenig bekannt. Untersucht werden verschiedene Gene, so genannte Kandidatengene, die möglicherweise mit dem Auftreten von Krankheiten wie neuropathischem Schmerz zusammenhängen. Derzeit wird eine ganze Reihe solcher Risikogene untersucht, wie z. B. jene, die den Bauplan für COMT (Catechol-O-Methyltransferase), den Morphinrezeptor, für die Natriumkanäle Nav 1.3/7/8, für den 5-HTT (5-Hydroxytryptamin-Transporter) sowie 5-HT2A-Rezeptor, beides Rezeptoren des Neurotransmitters Serotonin, und GCH-1 (GTP-Cyclohydrolase 1) enthalten. Allerdings stammen die meisten Ergebnisse von Experimenten an Mäusen. Dabei sind im Besonderen die Polymorphismen von größtem Interesse. Das sind Genvarianten, bei denen kurze Abschnitte in einem Gen leicht unterschiedlich sind. Diese Polymorphismen sind vermutlich signifikant mit der Ausbildung bestimmter Symptome korreliert.
OPRM1-Gen: Inzwischen sind etwa 45 Gene identifiziert, die das Schmerzgeschehen wie etwa Druckempfinden, Kälte- und Hitzeschmerz oder die Schmerzverarbeitung mit beeinflussen. Hierzu gehören etwa das COMT-Gen, das OPRM1-Gen und das TRPV1-Gen. Ein vermindertes Druckempfinden haben beispielsweise Menschen, bei denen es im OPRM1- Gen, das für den μ-Opioidrezeptor codiert, an der Position 118 zu einem Austausch von Adenin gegen Guanin gekommen ist. Rund 11% der Bevölkerung sind Träger dieses Polymorphismus. Träger dieses Enzyms zeigen einen erniedrigten Effekt bei Opioiden und benötigen postoperativ (nach Bauchoperationen) höhere Opioidmengen.
DREAM-Gen: Bereits 2002 hat der österreichische Genforscher Josef Penninger das so genannte DREAM-Gen (Downstream Regulatory Element Antagonistic Modulator) in Studien an Mäusen entdeckt. Ursprünglich war die Euphorie sehr groß. Man hat gehofft, damit das Schmerzgen entdeckt zu haben. Heute weiß man, dass dieses Gen auch Gedächtnis und Lernen steuert und damit einen wichtigen Kandidaten bei der Entstehung für Altersdemenz darstellt. Vermutlich reguliert dieses Gen den Kalziumkanal.
COMT-Gen(e): Es ist unter anderem bekannt, dass über das individuelle Schmerzempfinden mindestens ein einziges Gen entscheidet. An der Universität von Michigan hat Jon-Kar Zubieta mittels PET-Untersuchungen nach Injektion einer Salzlösung in den Kiefermuskel entdeckt, dass bei diesem experimentellen Schmerz eine Gruppe von Personen diesen Schmerz deutlich schmerzhafter wahrnimmt als die andere Gruppe (Science 2003; 299:1240-1243). Das Gehirn war hierbei in jenen Regionen um vieles aktiver tätig, die für die Verarbeitung von affektiven Gefühlen wie Schmerz, Emotionen oder Stress zuständig sind. Der Unterschied dieser unterschiedlichen Schmerztoleranz wird entscheidend von einem Gen reguliert, das für die Produktion des Enzyms Catechol-O-Methyltransferase (COMT) gesteuert wird. Dieses Enzym deaktiviert in den sympathischen Nervenenden verschiedene Katecholamine, darunter Noradrenalin, Adrenalin und Dopamin. Außerdem sorgt COMT für den Abbau von Arzneimitteln, die im zentralen Nervensystem wirken. COMT-Polymorphismen werden mit einer Reihe von psychischen Veränderungen wie Angststörungen und Schizophrenie in Verbindung gebracht. Es wird auch vermutet, dass COMT für das Entstehen von Fibromyalgie mitverantwortlich ist. Wird Dopamin nicht rasch genug abgebaut, so produziert das Gehirn weniger körpereigene Schmerzmittel. Dopamin ist wichtig bei der Verarbeitung von angenehmen und stark emotional beladenen Ereignissen. Dabei existieren zwei verschiedene Genformen: jenes Gen, das die Vorlage für COMT mit Methionin (COMT-Met-158) trägt, und jenes, das die Vorlage für COMT und die Anweisung für den Einbau von Valin (COMT-Val-158) trägt. Besteht die erste Form, so ist der Mensch sensibler für Schmerz und trägt ein höheres Risiko für Chronifizierung. Existiert die zweite Form, so wird vermehrt Enkephalin produziert und der Mensch ist weniger schmerzempfindlich. Existieren beide Formen zu gleichen Anteilen, so handelt es sich um ein normales Schmerzempfinden. Möglicherweise tragen diese Variationen dazu bei, dass Morphin die Schmerzen von Krebspatienten in unterschiedlichem Ausmaß lindert. Bei den schmerzempfindlichen Personen werden vermehrt μ- Rezeptoren gebildet.
TRPV1-Gen: Verminderte Schmerzen bei Kälte verspüren Menschen mit einer bestimmten Mutation im TRPV1-Gen, das für den capsaicin- und hitzesensitiven Vanilloid-Rezeptor codiert. Mit rund 37% kommt diese Genausprägung besonders häufig vor. Doch nur seine homozygoten Träger, die also zwei veränderte Genkopien besitzen, zeigen ein drastisch vermindertes Kälteempfinden. Den Kälteschmerz steigert dagegen eine Mutation im FAAH-Gen, dessen resultierendes Enzym FAAH (Fatty Acid Amide Hydrolase) eine wichtige Rolle im Endocannabinoid-Metabolismus spielt. Die Häufigkeit des Allels beträgt rund 20%. Aber auch die Schmerzverarbeitung bei Hitze kann von der Norm abweichen. Betroffen sind etwa Menschen mit einem SNP (Single Nucleotide Polymorphism) im OPRD1-Gen, das für den δ-Opioidrezeptor codiert. Hauptsächlich bei heterozygoten Trägern, die nur eine veränderte Genkopie besitzen, ist dabei der Hitzeschmerz vermindert.
GCH1-Gen: Ein weiteres Gen, das so genannte GCH1-Gen, wurde am Massachusetts General Hospital entdeckt. Schmerzunempfindliche Menschen haben eine bestimmte Version dieses Gens, welches die Menge eines neu entdeckten Schmerzmoleküls, BH4, reguliert (Nature Medicine 2006; 12:1269-1277).
In der Schmerzverarbeitung bei einer Nervenschädigung spielt das GCH1-Gen eine wichtige Rolle. Die Aktivität dieses Gens erhöht sich bei einer Verletzung bis um das Sechsfache, wie Untersuchungen mit Ratten zeigen. Die Tiere waren dadurch stärker schmerzempfindlich. Durch die erhöhte GCH1-Gen- Aktivität steigt die Produktion von Tetrahydrobiopterin (BH4), einem wichtigen Enzym zur Synthese einiger Katecholamine und ein wichtiger Kofaktor für alle Stickstoffmonoxidsynthasen. In der Folge wird verstärkt Stickstoffmonoxid synthetisiert, das in hohen Konzentrationen schmerzsteigernd wirkt.
In einer internationalen Studie, an der auch die Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main beteiligt war, konnte nun bei Menschen eine Variante des GCH1-Gens nachgewiesen werden, die schmerzunempfindlich macht. Bei Trägern dieser Variante steigt die BH4-Synthese und damit das Schmerzempfinden nicht an – weder bei neuropathischen noch bei entzündlichen Schmerzen. So hatten homozygote Träger auch postoperativ weniger Schmerzen. Woolf et al. konnten an 168 bandscheibenoperierten Personen zeigen, dass jene Patienten mit geringeren Schmerzen eine bestimmte GCH1-Variante aufwiesen. Auch zeigten sich von 400 Probanden diejenigen mit nur einer Kopie dieser Genvariante bei Schmerztests weitaus weniger empfindlich als Testpersonen mit normaler GCH1-Ausstattung.
Doch die Ergebnisse dieser GCH1-Studie konnten bisher von anderen Arbeitsgruppen nicht reproduziert werden. Damit steht diese Untersuchung in der Literatur nicht allein da.
Professor Dr. Gerd Geisslinger von der Universität Frankfurt meint dazu: “Studien fokussieren oft nur auf einen einzelnen Polymorphismus, doch die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass mehrere Polymorphismen, auch auf verschiedenen Genen, gleichzeitig auftreten und die Schmerzintensität in die entgegengesetzte Richtung regulieren können.”
Bekannt ist dies etwa beim COMT-Gen, das das Enzym Catechol-O-Methyltransferase codiert. Wenn ein Mensch zwei Kopien der Valin- Genvariante (VAL-VAL) besitzt, benötigt er bei Schmerz deutlich mehr Morphin zur Analgesie als einer, der zwei Kopien der Methionin-Genvariante (Met-Met) hat. Gleiches gilt auch für heterozygote (gemischterbige) Val-Met-Träger. Dennoch bestimmt dieser SNP im COMT-Gen nicht allein das Geschehen. Je nachdem, welche begleitenden Polymorphismen auftreten, können die Betroffenen ein völlig anderes Schmerzempfinden aufweisen. Dabei greifen sekundär auch Polymorphismen in die Regulation des Schmerzgeschehens ein, bei denen es nicht zu einem veränderten Aminosäureeinbau in das resultierende Protein kommt. Mehr als drei verschiedene Komplexe gekoppelter, also gemeinsam vererbter Genvarianten konnten bisher identifiziert werden.
SCN9A: Ein anderes Gen wiederum kodiert die Alpha-Untereinheit des spannungsgesteuerten Natriumkanals Nav1.7. Dieses Gen SCN9A kann zwei verschiedene Variationen aufweisen: Eine Form trägt an Position 1.150 die Aminosäure Arginin, die andere hingegen Tryptophan. Bei Arginin ist das Schmerzsystem aktiver schmerzhemmend tätig (Proceedings of the National Academy of Sciences 10.073, 2010). Geoffrey Woods, Cambridge, hat bei 578 Arthritis-Patienten an Hand von Punktmutationen in SCN9A gesehen, dass die häufigere Version des Proteins die Aminosäure Arginin darstellt.
Unterschiedliche Metabolisierung: Untersuchungen über den Stoffwechsel von Tramadol z.B. zeigen, dass unterschiedliche Anlagen in der biochemischen Ausstattung des Enzyms unterschiedlich raschen Abbau auslösen. Es ist bekannt, dass in Europa z.B. 10% der Bevölkerung so genannte Poor-Metabolizer darstellen.
Das individuelle genetische Profil kann den pharmakologischen Effekt eines Medikaments variieren (Pharmakogenetik). Für das Cytochrom-P450-Enzymsystem sind zahlreiche Polymorphismen beschrieben, welche die Enzymaktivität reduzieren oder stark erhöhen und damit Effektivität und Nebenwirkungen der Therapie beeinflussen. Codein hat keinen, Tramadol einen reduzierten analgetischen Effekt bei Individuen mit fehlender CYP2D6- Aktivität. Blutspiegel unterhalb des therapeutischen Bereichs wurden für trizyklische Antidepressiva bei erhöhter CYP2D6-Aktivität gefunden, hohe Blutspiegel für einige NSAIDs bei fehlender CYP2C9-Aktivität. Ein häufiger μ-Opioidrezeptor-Polymorphismus wird mit erhöhtem Opioidbedarf und weniger opioidbedingten Nebenwirkungen assoziiert.
Krankheitsauslösende Gene: Neben den Genen, die das individuelle Schmerzempfinden beeinflussen, sind für die Forschung auch solche relevant, die bestimmte Krankheiten, zum Beispiel Migräne oder Fibromyalgie auslösen oder das Risiko eines Patienten für chronische Schmerzen erhöhen. Ein Beispiel ist das bereits oben beschriebene Gen COMT, das unter anderem die Reaktion der körpereigenen Schmerzhemmung beeinflusst. Dieses Gen liegt in zwei Varianten vor. Studien deuten darauf hin, dass Träger der einen Genvariante ein höheres Risiko besitzen, chronische Schmerzen zu entwickeln.
Diagnosetool Pharmakogenetik: “In Zukunft sollten daher vor allem multigenetische Untersuchungen zum Einsatz kommen, wenn es darum geht, die Schmerzverarbeitung besser zu verstehen”, meint der deutsche Schmerzforscher Geisslinger. Daher sei die Bestimmung von einzelnen SNPs in der Pharmakogenetik durchaus sinnvoll. Die Pharmakogenetik gilt als zukünftiges diagnostisches Werkzeug, um die medikamentöse Therapie zu verbessern und zu individualisieren. Bisher liegen zahlreiche punktuelle Ergebnisse vor, die erst in klinischen Erfahrungen zeigen müssen, ob sie tatsächlich das erhoffte Potenzial zur Verbesserung der Schmerztherapie, zur personalisierten maßgeschneiderten Schmerztherapie aufweisen.
Die Entstehung und Verarbeitung von Schmerz ist jedoch keine monogene Angelegenheit. Während bei monogenen Erkrankungen wie dem Huntington-Syndrom nur eine einzige Mutation in einem bestimmten Gen zum Ausbruch der Erkrankung führt, sind bei komplexen Erkrankungen, wie Alzheimer oder Parkinson, eine Vielzahl von Risikogenen an der Krankheitsentwicklung beteiligt. Auch das Schmerzgeschehen wird durch das Zusammenspiel vieler Erbfaktoren bestimmt.
Dabei bedeutet eine einzelne Mutation nicht zwangsläufig, dass die Betroffenen ein verstärktes oder vermindertes Schmerzempfinden haben oder bei ihnen Analgetika anders wirken. Daher lässt sich die Vererbung bestimmter Schmerzeigenschaften derzeit noch nicht vorhersagen. Von einer Gentherapie in der Schmerztherapie sind wir noch meilenweit entfernt.
Literatur beim Verfasser