Der 9. Rare Disease Dialog der Pharmig Academy beschäftigte sich mit den Fragen, welcher Schwung daraus für seltene Erkrankungen mitgenommen werden kann und welche Aufgaben Telemedizin dabei erfüllen kann.
„Das, was in der Pandemie passiert ist, ist im Leben von Menschen mit seltenen Erkrankungen gar nicht so ungewohnt“, beschrieb Michaela Weigl von Pro Rare Austria die Situation: „Dennoch hat uns die Pandemie sehr getroffen und manches, das vorher schon schwierig war, noch schwieriger gemacht. Der eingeschränkte Zugang zu Gesundheitsleistungen trifft besonders Menschen mit chronischen Erkrankungen und gefährdet sie noch mehr.“ Zwar konnte die kontinuierliche lebensnotwendige medizinische Versorgung (Beispiel Enzymersatztherapie) gewährleistet werden, und durch die Bemühungen und oft durch das persönliche Engagement behandelnder Ärzte konnte vieles abgefedert und mit Telekommunikation kompensiert werden, doch gerade in der physiotherapeutischen Versorgung, wenn auch „heilende Hand angelegt werden“ muss, zeigten sich hier ebenso Grenzen wie in der psychosozialen Begleitung, insbesondere dann, wenn die Beziehung zwischen Patient und Arzt oder Therapeut noch nicht aufgebaut ist.
Univ.-Prof. Dr. Daniela Karall, Stellvertretende Direktorin der Innsbrucker Kinderklinik und Präsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde, blickt auf 20 Jahre Betreuung von Patienten mit seltenen Erkrankungen zurück. „In dieser Zeit waren wir vor allem damit beschäftigt, Vernetzungsstrukturen aufzubauen.“ Das passierte vor allem auf persönlicher Ebene und resultierte darin, Vertrauen aufzubauen. COVID-19 brachte große Einbrüche und Veränderungen, einen Alltag mit wenig „Operativem“, wenig direkten Kontakt, dafür viel Zeit am Telefon, in der es vielfach darum ging, Ängsten zu begegnen und viele Fragen zum spezifischen COVID-19-Risiko, jetzt zur Impfung, zu beantworten. Karall beschreibt eine Zeit, die sie als sehr herausfordernd erlebt hat. Und selbst wenn all das mit den Mitteln der Telekommunikation notgedrungen überbrückt werden konnte, verweist sie auf eine Gruppe von Patienten mit SE, die besonders gelitten hat: nämlich jene Patienten, die noch keine Diagnose haben. „Patienten, die noch kein Netzwerk haben, gingen uns verloren.“ Eine Einschätzung, die von Michaela Weigl ebenso wie von Till Voigtländer unterstrichen wird.
Ob und wie viele Menschen mit seltenen, noch gar nicht diagnostizierten Erkrankungen auf der Strecke blieben, um wie viel sie zu spät diagnostiziert wurden, lässt sich schwer abschätzen, zu selten und zu unterschiedlich sind die einzelnen Erkrankungen, und zu lange dauert der mühevolle Weg durch die Institutionen bis zur Diagnose schon in Nicht-Pandemie-Zeiten, wie die Diskutanten unisono betonten. „Unser System war nicht auf die Corona-Pandemie vorbereitet“, bringt es auch Assoz. Prof. Priv.-Doz. Dr. Till Voigtländer, Leiter des Nationalen Büros für die Umsetzung und Weiterentwicklung des Nationalen Aktionsplans für seltene Erkrankungen (NAP.se), auf den Punkt.
Zwar hat gerade im Bereich der SE in den letzten Jahren eine enorme Vernetzung (Stichwort Expertisezentren und Europäische Referenznetzwerke, ERN) und eine Entwicklung von digitalen Tools (Clinical Patient Management System) stattgefunden. Und dort, wo österreichische Expertisezentren schon designiert und in diese Netzwerke schon eingebunden waren, konnte auch in der Pandemie ein großer Benefit daraus gezogen werden, etwa in der internationalen Erarbeitung von COVID-19-spezifischen Empfehlungen und von Risikobewertungen für bestimmte Erkrankungsgruppen.
Letztlich erreicht und auch von neuen Tools und telemedizinischen Angeboten unterstützt werden können aber nur jene Patienten, die schon bekannt sind. Voigtländer: „Aber die, die wir gar nicht kennen, waren jetzt nicht die, die priorisiert wurden. Ich sehe daher auch eine Gefahr, dass Patienten verloren gegangen sind – und auch jetzt noch nicht wieder im Fokus stehen!“ Ambulanzbetrieb und Spezialsprechstunden seien weitgehend noch immer auf Einladung und Terminvergabe organisiert, was die Kontaktmöglichkeit für Betroffene auf der Suche nach der Zweit- und Drittmeinung und endlich einer Diagnose weiterhin erschwere. Als Ausnahmen verweist Voigtländer auf jene SE, die ganz früh diagnostiziert werden müssen, um frühzeitig therapieren zu können. „Das Neugeborenen-Screening ist sicher völlig unverändert weitergelaufen. Aber das betrifft rund 35 Krankheitsbilder von etwa 7.000.“ – Die Diagnose für den Rest sei nicht im Fokus gestanden.
Gleichzeitig wurde in der Pandemie für Patienten vieles raschest realisiert: von telemedizinischen Angeboten, um die räumliche Distanz zwischen Arzt und Patient zu überwinden, über Webinare zur Wissensvermittlung bis zum elektronischen Rezept – einem übrigens eindrucksvollen Beispiel dafür, was möglich werden kann, wenn Akteure über ihren Schatten springen. Ähnliches gilt auch auf europäischer und internationaler Ebene und ermöglichte eine Impfstoffentwicklung und auch Impfstoffproduktion in bislang ungeahnter Rekordzeit, wie Dr. Sylvia Nanz, Medical Director von Pfizer Austria und stellvertretende Vorsitzende des PHARMIG Standing Committees Rare Diseases, ausführte. Eine bisher nicht für möglich gehaltene grenzüberschreitende Zusammenarbeit von Wissenschaft, Industrie und Politik wurde in dieser Ausnahmesituation Realität.
„Viel alter Ballast wurde über Bord geworfen“ beschreibt auch Univ.-Prof. Dr. Herwig Ostermann, Geschäftsführer der GÖG, eine Zusammenarbeit und eine „gemeinsame Agenda“ – über eingefahrene Grenzen hinweg. „Das ist der Schwung, den wir mitnehmen sollten.“
Die Pandemie hat somit das Brennglas auch auf bisher ungeahnte Möglichkeiten gerichtet. Einige Blitzlichter sind: Wissen, das in Echtzeit geteilt wird; die Zusammenarbeit zwischen akademischer Forschung – vor allem auch Grundlagenforschung – und Industrie; der frühe Dialog zwischen Firmen und Zulassungsbehörden, laufende Rolling-Review-Verfahren; Produktionspartnerschaften – und last, but not least auch ein Aussetzen des Ökonomieprinzips.
In seinem Schluss-Statement schärfte Till Voigtländer noch einmal den Blick für die einzelnen Menschen, die hinter dem klingenden Sammelbegriff von „seltenen Erkrankungen“ stehen: „In all dem, was wir jetzt versuchen, um aus dem Desaster zu lernen, darf nicht vergessen werden, wieviel Leid dadurch über viele Menschen gebracht wurde.“
Die Übertragbarkeit von COVID-19 auf seltene Erkrankungen ist für Voigtländer ein zweischneidiges Schwert. „Wir reden bei COVID-19 nicht von einer seltenen Erkrankung, wir haben hier einen Massenmarkt für die Unternehmen der Pharmaindustrie, die, selbst wenn sie zusammenarbeiten, sich den Markt so aufteilen, dass keiner jemals am Hungertuch nagen wird.“ Auch die Studienkonzeption in einer Pandemie ist eine viel leichtere: „Für Beobachtungsstudien stehen gleichzeitig viele Menschen zur Verfügung, von denen sich durch die Wellen der Infektion ein gewisser Anteil infiziert, so dass relativ schnell ein statistischer Unterschied zu sehen ist. Das gibt es bei seltenen Erkrankungen nicht!“
Gelernt habe man jedoch im Hinblick auf mögliche Erweiterungen in der digitalen Gesundheitsversorgung, etwa bei neuen Systemen zur Verbesserung der Arzt-Patienten-Interaktion und auch zur Datensammlung – Themen, die auch beim Rare Diseases Dialog diskutiert wurden. Für Voigtländer könnten die E-Health-Möglichkeiten aber noch weit darüber hinausgehen und gerade für seltene Erkrankungen den Horizont erweitern. Denkbar wären lernende Algorithmen, die elektronische Gesundheitsakten durchforsten und Patienten ohne Diagnose herausfiltern, indem sie Zehntausende Parameter analysieren und mit der wissenschaftlichen Literatur vergleichen. „Hier liegt noch ein unglaublicher Entwicklungsschritt!“, betont Voigtländer. Dazu komme jedoch der Aspekt der Datensicherheit, der einer sehr guten Lösung bedürfe. „Hier sehe ich viel Potenzial im Hinblick auf seltene Erkrankungen. Gesundheitsdaten können einen hohen Benefit haben, aber sie sind auch ein sehr sensibles, bestmöglich zu schützendes Gut.“
Wie Univ.-Prof. Dr. Alexander Gaiger, Hämatoonkologe und Psychotherapeut, Programmdirektor Telemedizin, E-Health, Machine Learning und Psychoonkologie des Comprehensive Cancer Center, Medizinische Universität Wien, in seiner Key Note ausführte, stellt sich zunächst die Frage, was unter Telemedizin zu verstehen ist. Er präsentierte mit der E-SMART-Technologie eine modulare adaptive E-Health-Plattform, die in den letzten 17 Jahren gemeinsam mit Universitäten aus Norwegen, England, Schottland, Irland, Griechenland und Österreich entwickelt wurde, evidenzbasiert ist (durch die weltweit bisher größte, randomisierte, von der EU-Kommission unterstützte Studie) und in einzelnen Fragestellungen bereits in der Routine integriert ist. Die E-SMART-Technologie vereint dabei drei Generationen von Telemedizin: erstens die schon bekannte Lösung 1.0 als Überwindung räumlicher Distanz durch Telefon, Text- oder Videokonsultationen. „Zweiter wichtiger Teil – und hier waren wir in Österreich führend – ist ein datenschutzkonformer Datenhighway, was durch ELGA ermöglicht wurde.“
Mit der von Gaiger als 3.0 bezeichneten Lösung integriert die Plattform letztlich das Empowerment von Patienten und bindet die Betroffenen als Experten für den eigenen Gesundheitszustand kompetent ein – sozusagen „als Missing Link zum Erfolg bei Telemedizin“. Das umfasst Patient-reported Outcome Measurements, dazu eine Augmented Intelligence, und Deep Learning, um die Muster auszuwerten. Konkret wird das Assessment (etwa zu Schmerz, Symptomen, Lebensqualität etc.) zu Hause durchgeführt, auch Sensordaten können integriert sein, routinemäßig mit einem 24/7-Betreuungsteam verbunden, das gegebenenfalls in einem abgestuften System reagiert. Die Darstellung der Symptome und der Symptomlast über die Zeit ermöglicht das Erkennen von Patterns over Time. Das ermögliche, dass Probleme nicht teuer gelöst werden müssten, sondern dass ihnen gegengesteuert werden könnte, so Gaiger: „Ich sehe Muster von Symptomen, welche im 1. Monat einer Therapie entstehen und prädiktiv sind für Probleme, die im 3. Monat auftreten können.“
Das System stärke die Patientenautonomie, entlaste die Gesundheitsberufe, schütze und unterstütze Risikogruppen und biete standardisierte Gesundheitsdaten als Grundlage für evidenzbasierte Interventionen. Dabei soll das System, das in der Onkologie bereits eingesetzt wird, keinen zusätzlichen Aufwand bringen (wie etwa nach einer reinen Videokonsultation, die dann ja in der Nachbearbeitung für den Arzt fast genauso lange dauert) und den zwischenmenschlichen Kontakt nicht ersetzen, sondern ergänzen, wie Gaiger betont: „Telemedizin soll eine eutope Vision der Zukunft ermöglichen, keine Dystopie, wo Roboter herumfahren und den menschlichen Kontakt ersetzen. Wir wollen, dass wir als Menschen einander wieder begegnen können und der Administrationsaufwand von Maschinen gemacht wird.“
Quelle: 9. Rare Diseases Dialog der Pharmig Academy, moderiert von Mag. Tarek Leitner, 5. Mai 2021