Gendermedizin stellt eine interdisziplinäre medizinische Herangehensweise dar, den unterschiedlichen Bedürfnissen von Mädchen und Buben, Frauen und Männern während des gesamten Lebenszyklus des Menschen im medizinischen Umfeld gerecht zu werden. Gender, ein von den Geisteswissenschaften geprägter Begriff, beschreibt das soziale Geschlecht des Menschen, z. B. die Definition des männlichen/weiblichen Rollenbildes, den Einfluss von Sprache, Religion, Bildung, Einkommen, die eigene Wahrnehmung von Gesundheit/Krankheit oder den Umgang und die Verarbeitungsweise von Behinderung.
Unterschiedlicher Zugang zu Therapien: Ein Beispiel aus dem medizinischen Alltag, wie sehr Genderfaktoren Einfluss auf Gesundheit und Krankheit haben, wurde anlässlich der 4. Jahrestagung der Österreichischen Gesellschaft für geschlechtsspezifische Medizin präsentiert. Hier wurde untersucht, ob das Geschlecht Einfluss auf die Nutzung der ambulanten Rehabilitation nach einem Insult hat. Es zeigte sich, dass im Laufe der Therapie immer weniger Frauen zur Rehabilitation erschienen, obwohl zu Therapiebeginn mehr Patientinnen diese Therapie begonnen hatten. Nach der Analyse zeigte sich der Grund: Männer wurden durch Ehefrau oder Partnerin zur Rehabilitation gebracht. Die Frauen aber, meist älter und alleine lebend, hatten niemand, der sie zur Therapie begleitete, und da ein Transport zur Rehabeinrichtung nicht durch einen Krankentransport möglich war, stand nur mehr die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel zur Verfügung. Diese wurde von den Frauen auf Grund von Schwindel und erhöhter Sturzneigung nach dem Insult nicht genutzt und sie blieben daher der Behandlung fern.
Auch bei onkologischen Erkrankungen gibt es geschlechterspezifische Unterschiede hinsichtlich des Wunsches der PatientInnen und Patienten nach begleitenden psychosozialen Maßnahmen. Frauen fragen im Vergleich zu Männern häufiger und wesentlich früher, meist schon zum Zeitpunkt der Diagnosestellung, nach psychosozialer Unterstützung zur Krankheitsbewältigung. Männer äußern diesen Wunsch deutlich seltener und er wird auch oft nicht von den Betroffenen selbst, sondern von der Partnerin an die Ärztinnen und Ärzte herangetragen.
Unterschiedlicher Umgang mit Stress: Auch die frühere Sterblichkeitsrate von Männern im Vergleich zu Frauen durch die „Gender-Brille“ betrachtet ergibt neue Aspekte. In einer Studie aus Deutschland wurde die Mortalität von Mönchen und Nonnen in Klöstern untersucht – und es zeigte sich, dass in dieser Population kein Altersunterschied zwischen den Geschlechtern nachzuweisen war. Mann zu sein bedeutet aggressiver und risikofreudiger zu sein als eine Frau. Dies zeigt sich auch in der Unfallstatistik, in der als häufigste Todesursache bei jungen Männern im Alter zwischen 18–25 Jahren der Verkehrs- bzw. Sportunfall steht. Stressfaktoren werden von Männern und Frauen unterschiedlich wahrgenommen, bewertet und verarbeitet. Frauen reagieren mehr auf Stress im familiären Umfeld, Männer hingegen im beruflichen Bereich. Männer zeigen ein typisches „hämodynamisches Muster“ mit deutlichem Anstieg von Blutdruck und Stresshormonen (Adrenalin und Noradrenalin). Frauen reagieren eher mit einem Anstieg der Herzfrequenz und benötigen länger, die Stressreaktion neurohumoral zu verarbeiten. Ob diese unterschiedlichen Muster ausschließlich biologisch bedingt sind oder ob vielleicht ein Teil davon „gendertypisch“ erlernt ist, ist derzeit sicher noch nicht gänzlich geklärt.
Biologische Unterschiede: Sex beschreibt Unterschiede auf rein biologischer Ebene, z. B. dass Männer in allen Kulturkreisen größer sind als Frauen, eine andere Körperfett-Wasser-Verteilung und hormonelle Regulation als Frauen aufweisen, die sich z. B. signifikant auf Pharmakokinetik- und -dynamik und damit auf die Wirkungsweise von Medikamenten auswirken. Als Beispiele seien erwähnt: Verlängerung des QT-Intervalls durch Klasse-1-C-Antiarrhythmika, Virustatika, Antiemetika und Antibiotika bei Frauen. Biologische Unterschiede zwischen den Geschlechtern können zum Teil auf den Wirkungsmechanismen der Sexualsteroide basieren, z. B. Schmerzwahrnehmung und dessen Weiterleitung im Bereich des peripheren und zentralen Nervensystems, endogene Vasoprotektion durch körpereigene Östrogene. Es gibt allerdings auch unzählige biologische Unterschiede, die völlig unabhängig von der hormonelle Achse sind. Neueste Forschungsergebnisse im Bereich der Hirnforschung haben biologische Unterschiede in verschiedenen Hirnanteilen, z. B. Corpus amygdaloideum und Striatum und auch neue geschlechtsspezifische genetische Unterschiede bei Autismus gezeigt.
Unterschiede in der Diagnostik: Geschlechtsspezifische Unterschiede sind auch im Bereich der Diagnostik anzutreffen. Das Belastungs-EKG zur Diagnostik der koronaren Herzkrankheit zeigt bei Männern eine Sensitivität von ca. 79 bis 83 %, bei Frauen allerdings nur zu 61 %, bedingt durch das Alter und endogene Östrogene, die eine unspezifische Repolarisationsstörung induzieren können. Bei Diabetikerinnen sinkt die Sensitivität unter 50 % und soll daher zur Diagnostik der koronaren Herzkrankheit lt. Richtlinien der American Heart Association nicht mehr eingesetzt werden, sondern es sollen stattdessen die Stressechokardiografie oder szintigrafische Methoden zum Einsatz kommen.
Bewusstseinsbildung: Sex und Gender stellen somit wichtige, zentrale Faktoren in der Medizin dar, die die ärztliche Gesprächsführung genauso beeinflussen wie Therapie und Diagnostik von Erkrankungen und den Menschen während seines gesamten Lebenszyklus begleiten. Eine geschlechtersensible ärztliche Denkweise steht damit gleichbedeutend für die ganzheitliche Wahrnehmung der Patientin/des Patienten und ihrer/seiner individuellen Bedürfnisse.
Die Österreichische Gesellschaft für geschlechtsspezifische Medizin, die 2007 gegründet wurde, hat sich zur Aufgabe gemacht, Gender-Medizin in den verschiedenen medizinischen Fachdisziplinen bewusst und bekannt zu machen und im Rahmen von Kongressen und Symposien über die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse zu berichten.