Charakteristika von Placebo- und Noceboeffekten: Grundsätzlich versteht man unter Placeboeffekt eine erwünschte unspezifische Wirkung einer therapeutischen Intervention (z. B. die Verbesserung einer Medikamentenwirkung durch eine positive Erwartungshaltung), unter Noceboeffekt eine unerwünschte unspezifische Wirkung (z. B. die Verstärkung von Nebenwirkungen nach der Lektüre der Arzneimittelinformation). Gemeinsam mit den beiden spezifischen Effekten einer Behandlung – klinische Wirkung (erwünschte spezifische Wirkung) und Nebenwirkung (unerwünschte spezifische Wirkung) – gelten diese vier Phänomene als gemeinsame Komponenten jeder therapeutischen Maßnahme. Begrifflich unterschieden werden muss hier der Placeboeffekt, d. h. ein positiver unspezifischer Therapieeffekt in einer definierten Stichprobe (als Gruppeneffekt), von der Placebo-Response, dem gleichen Phänomen in einer definierten Person. Eine Placebo-Response ist im Einzelfall nur schwer von Pseudo-Placeboeffekten abzugrenzen. Hierzu zählen methodische Artefakte (z. B. die Länge einer Studie im Verhältnis zu erwartbaren Symptomschwankungen, Stichprobengröße und Regression zum Mittelwert), der natürliche Krankheitsverlauf (z. B. Spontanheilungen) oder unberücksichtigte Parallelinterventionen (z.B. signifikante lebensverändernde Ereignisse bei Probanden wie Hochzeit, Scheidung, Tod eines nahen Angehörigen).
Placeboeffekte können durch Förderung positiver psychologischer Aspekte der Arzt-Patienten-Beziehung auftreten (z. B. durch Beruhigung der Patienten, Empathie, Motivationsförderung etc.). Sie können auch intendiert werden durch sog. Scheininterventionen, z. B. durch Scheinmedikamente, Scheinoperationen, Scheinakupunktur. Diese beabsichtigte “Täuschung” des Patienten wird legitimiert beispielsweise im Rahmen von klinischen Prüfungen nach dem Arzneimittelgesetz, mit dem Ziel, die spezifische Wirkung einer Intervention von den unspezifischen Effekten abgrenzen zu können. Wesentlich für den wissenschaftlichen Diskurs ist hierbei die Erkenntnis, dass der sogenannte Verumeffekt letztlich immer die Summe aus spezifischen und unspezifischen Wirkungen darstellt. In gleicher Weise kommen Therapienebenwirkungen in unterschiedlichem Ausmaß auch durch Noceboeffekte zustande. Die häufigsten “Nebenwirkungen” in placebokontrollierten Studien sind Kopfschmerzen, Schwindel, Müdigkeit bzw. Schwäche.
Aus ethischer Sicht sollte nicht unerwähnt bleiben, dass die intendierte “Täuschung” durch Verabreichung eines Scheinmedikaments (anstelle einer Medikation mit Wirkstoff) nur nach schriftlicher Aufklärung und Einverständniserklärung der Patienten zulässig ist. Außerhalb von klinischen Prüfungen ist dies nur dann ethisch gerechtfertigt, wenn Patienten beispielsweise einer individuellen Testung einer Arzneiwirkung oder individuellen Dosisfindung – z. B. im Rahmen eines Morphintests – zustimmen. In diesem Fall ist das
Ergebnis des Tests mit dem Patienten zu besprechen. Die Verabreichung von Scheinmedikamenten als “Ersatzhandlung” anstelle von Wirksubstanzen ohne Aufklärung ist ethisch nicht vertretbar (siehe z. B. die Leitlinie “Behandlung akuter perioperativer und posttraumatischer Schmerzen”, AWMF 2007).
Placeboeffekte sind bei praktisch allen medizinisch-therapeutischen Interventionen
beobachtbar: Medikation, Operationen, Biofeedback, transkutane Nervenstimulation (TENS), Akupunktur etc. Bei klinischen Schmerzsyndromen finden sich in der Regel höhere Placeboeffekte als bei experimentell induziertem Schmerz. Nach Mehrfachanwendungen nimmt die Stärke des Placeboeffekts häufig rascher ab als die Stärke des Verumeffekts, allerdings finden sich in placebokontrollierten Langzeitstudien auch mitunter mehrjährige positive Placeboeffekte. Durch systematische Studien in den letzten Jahren gelang es, einige Irrtümer bzw. Falschmeinungen über Placebo-Phänomene aufzuklären:
Psychologische und neurobiologische Wirkung von Placebo- und Noceboeffekten:
Im Lichte der modernen psychologischen und neurobiologischen Forschung beruhen Placebo- und Noceboeffekte auf folgenden Mechanismen (Price 1999):
Konditionierung: Entsprechend der klassischen Konditionierung wird ein zuvor neutraler Stimulus an einen unkonditionierten Stimulus gekoppelt, sodass der ursprünglich Stimulus in der Folge als konditionierter Stimulus eine Reizantwort – die konditionierte Reaktion – hervorruft. Beispielsweise können der Geruch des Desinfektionsmittels, der Anblick des weißen Arztmantels oder andere Umgebungsfaktoren an eine therapeutische Intervention (z. B. Verabreichung einer Spritze) gekoppelt werden, sodass alleine durch diese Umgebungsfaktoren bereits der therapeutische Effekt auftritt oder verstärkt wird. Nach der operanten Konditionierung wird eine bestimmte Reaktion verstärkt durch Belohnung bzw. abgeschwächt durch Löschung (oder Bestrafung). Beispielsweise führt das freundliche Gesicht des Arztes (des Partners eines Patienten) nach der Äußerung einer schmerzlindernden Wirkung beim Patienten zu einer Verstärkung dieses analgetischen Effektes. In gleicher Weise kann die Übelkeit nach einer Infusion bei der nächsten Infusion
bereits eine ängstliche Erwartungshaltung gefolgt von Übelkeit auslösen.
Kognitiv-emotionale Erwartungshaltung (“Expectation”): Neben den Konditionierungsparadigmen spielt die kognitiv-emotionale Erwartungshaltung selbst eine zentrale Rolle. Durch die Hoffnung auf Linderung kann ein gerade eingenommenes Medikament bereits wirken, bevor es noch im Darm resorbiert werden konnte. Umgekehrt kann auf gleiche Weise das Lesen des Beipacktextes (Arzneimittelinformation) die beschriebenen Nebenwirkungen hervorrufen. Diese Erwartungshaltung kann durch gezielte verbale Intervention (“Sie werden sehen, gleich wird’s besser”) noch verstärkt werden. Konditionierung und Erwartungshaltung wirken daher häufig gemeinsam.
Neurobiologie: An neurobiologischen Befunden zeigt sich als robustes Ergebnis die Bedeutung des endogenen Opioidsystems für das Zustandekommen dieser Effekte (Amanzio & Benedetti, 1999). Insbesondere die Erwartungshaltung lässt sich experimentell durchgängig mit einer Aktivierung des Endorphinsystems korrelieren, während bei der Konditionierung auch Non-Opioid-Mechanismen (Serotoninsystem, Immunreaktionen u. a.) involviert sein dürften. Brain-Imaging-Studien zeigen bei
Placebo-Analgesie eine Aktivitätsänderung jener schmerzverarbeitenden Zentren,
die auch unter Verum-Gabe beteiligt sind – auch hier wiederum korreliert eine Aktivität jener Kerngebiete mit hoher Opioid-Rezeptordichte mit der Stärke des Placeboeffekts. Der Noceboeffekt, beispielsweise Hyperalgesie, kommt großteils über Cholezystokinin (CCK) zustande. Die Nocebowirkung ist ein stark anxiogener Effekt, der in den meisten Fällen auch zu einer HPA-Überaktivität (erhöhte Plasmaspiegel von ACTH und Kortisol) führt: CCK transformiert somit Angst zu Schmerz (Benedetti et al., 2006).
Zusammenfassung: Über viele Jahre wurden Placebo- und Noceboeffekte als rein psychische Begleitphänomene einer medizinischen Behandlung betrachtet. Dies ist im Lichte der aktuellen Placeboforschung zu revidieren. Der Placebo- (und Nocebo-)Effekt ist eine psychologisch und neurobiologisch evidenzbasierte (und reproduzierbare) klinische Wirkung einer nicht auf einen spezifischen Wirkfaktor zurückführbaren therapeutischen Intervention. Placebo- und Noceboeffekte kommen aufgrund der Bedeutung, die eine bestimmte Intervention für eine Person hat, zustande (Walach & Sadaghiani, 2002). Dieser Bedeutungszusammenhang ist entscheidend für die Förderung von Genesung bzw. Heilung und entspricht dem Prinzip der allgemeinen therapeutischen Potenz, die allen Heilssystemen – vom Schamanen bis zum High-Tech-Mediziner – innewohnt (Frank,
1989). Therapeutische Wirkfaktoren sind in hohem Maße an die Begegnung und Beziehung von Personen – nicht an spezifische Technik oder verabreichte Moleküle –
gebunden. Diese unspezifischen therapeutischen Wirkfaktoren im Sinne des Placeboeffekts gilt es neben spezifischen Interventionsmaßnahmen optimal zu nutzen und zu fördern, um ein bestmögliches Behandlungsergebnis zu er zielen.