Diagnostischer Algorithmus und Therapie |
Dr. Katharina Gütl (li) |
Seit dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie besteht ein globales Streben, die Virusausbreitung sowie schwere Krankheitsverläufe einzudämmen. Innerhalb eines Jahres gelang es, Vakzine zu entwickeln und zu produzieren, wodurch es zu einem deutlichen Rückgang der Infektionszahlen und auch der Hospitalisierungen kam. Ende Februar 2021 entstanden erstmals Sicherheitsbedenken in Zusammenhang mit dem Vektorimpfstoff ChAdOx1 von AstraZeneca, als über erste Fälle von thrombotischen Ereignissen an untypischen Lokalisationen in Kombination mit Thrombopenien innerhalb kurzer Zeit nach der Impfung berichtet wurde. Auch nach der Impfung mit dem Janssen-Cilag/Johnson & Johnson-Vakzin in den USA wurden ähnliche thrombotisch-thrombozytopenische Fälle berichtet. Dieses Erkrankungsbild wurde als vakzininduzierte immunogene thrombotische Thrombopenie (VITT) deklariert. Bislang wurden einige mögliche Pathomechanismen dieses Syndroms untersucht, ein vollständiges Verständnis konnte jedoch noch nicht erlangt werden.
Die Epidemiologie der VITT muss im Kontext mit ähnlichen Komplikationen in der Normalbevölkerung betrachtet werden. Die Inzidenz einer VITT nach Erhalt eines COVID-19-Vektorvakzins wird mit 1 : 100.000 angegeben. Die jährliche Inzidenz einer isolierten Thrombopenie, wie beispielsweise einer Immunthrombopenie oder einer isolierten Sinusvenenthrombose, ist höher als bei einer VITT. Adjustiert man die Zahlen auf jenen Zeitraum von zwei Wochen nach der Impfung, in dem dieses Phänomen typischerweise auftritt, so sind die korrespondierenden Zahlen wiederum geringer als jene einer VITT. Von einem Klasseneffekt aller COVID-19-Impfstoffe ist nicht auszugehen. Die zwei Hauptgruppen von zugelassenen COVID-19-Impfstoffen sind zum einen mRNA-basierte Impfstoffe (BioNTech/Pfizer und Moderna) und zum anderen adenovirusbasierte Vektorimpfstoffe (AstraZeneca und Janssen-Cilag/Johnson & Johnson). Der Impfstoff von AstraZeneca verwendet einen Adenovirusvektor des Schimpansen, Janssen-Cilag/Johnson & Johnson einen rekombinanten humanen Adenovirus. Am besten untersucht sind impfassoziierte Thrombosen nach Erhalt des AstraZeneca-Vakzins. Daten aus den USA zeigen, dass bei über 200 Millionen applizierten Dosen der mRNA-basierten Impfstoffe keine einzige Thrombose im Zusammenhang mit einer Thrombopenie dokumentiert wurde.
Rezent publizierte Studien gehen bei der VITT von einer immunologisch vermittelten Komplikation aus, die zu einem gewissen Grad einer autoimmunen heparininduzierten Thrombopenie (aHIT) ähnelt. Bei beiden Krankheitsbildern finden sich Antikörper gegen den Plättchenfaktor 4 (PF4) in Zusammenhang mit einer Thrombopenie. Im Gegensatz zu einer klassischen HIT sind die aHIT wie auch die VITT von Heparinen unabhängig. Assoziationen der VITT mit prokoagulatorischen Komplikationen bei COVID-19-Erkrankungen sind nicht bekannt. Weiters scheint die VITT unabhängig vom SARS-CoV-2-Immunisierungsstatus.
Das Krankheitsbild der VITT manifestiert sich zumeist zwischen Tag 4 und 14 nach Verabreichung eines Vektorimpfstoffs, vereinzelte Fallvignetten beschreiben jedoch sogar das Auftreten von Erstsymptomen bis zu 28 Tage nach der Impfung. Je nach der Lokalisation des thrombotischen Geschehens kann auch die klinische Symptomatik sehr vielfältig sein. Mögliche Symptome sind schmerzhafte Beinschwellungen, Atembeschwerden und Thoraxschmerzen, Bauchschmerzen sowie Kopfschmerzen. Im Allgemeinen sind die tiefen Bein- und Beckenvenen sowie die Pulmonalarterien die mit Abstand häufigsten Lokalisationen venöser Thrombosen, während sich bei einer VITT typischerweise Thrombosen an unüblichen Lokalisationen wie an den Sinusvenen, Splanchnikusvenen, Ovarialvenen oder an der Pfortader manifestieren. Laborchemisch zeigt sich das Bild einer Verbrauchskoagulopathie, bestehend aus einer Thrombozytopenie, einem Fibrinogenmangel sowie einer massiven D-Dimer-Erhöhung. Als zentrales Diagnosekriterium ist an dieser Stelle insbesondere das Vorhandensein einer schweren Thrombopenie hervorzuheben.
Ein sehr praktikabler diagnostischer Algorithmus der Internationalen Gesellschaft für Thromboseforschung und Hämostaseologie (ISTH) wurde bereits im April dieses Jahres veröffentlicht. Gemäß diesem Algorithmus sollte in einem ersten Schritt das Vorhandensein einer typischen Symptomatik für eine venöse Thromboembolie (VTE) in Kombination mit einem Beschwerdebeginn innerhalb von 4–28 Tagen nach Erhalt einer COVID-Impfung mit dem Vakzin von AstraZeneca oder Janssen-Cilag/Johnson & Johnson erhoben werden. Sollten diese beiden Kriterien erfüllt sein, ist ein VITT-Verdacht fortbestehend und demzufolge eine weitere Abklärung erforderlich. In einem nächsten Schritt sollen eine Bildgebung zur Objektivierung einer Thrombose und eine Blutbildbestimmung zur Quantifizierung der Blutplättchenzahl erfolgen. Sollten hierbei sowohl ein thrombotisches Geschehen sowie auch eine Thrombozytopenie nachgewiesen werden, so ist eine VITT eine mögliche Diagnose. Die Diagnosesicherung in diesem Algorithmus erfordert den Nachweis von antithrombozytären Antikörpern gegen den Plättchenfaktor 4. Sollte eine solche Bestimmung nicht verfügbar sein, können stattdessen Gerinnungsparameter wie Fibrinogen, D-Dimer, aPTT und PZ herangezogen werden, um die Verdachtsdiagnose zu erhärten oder zu entschärfen. Ein vereinfachter Algorithmus zur Diagnoseverifizierung einer VITT in Anlehnung an den ISTH-Algorithmus ist in der Abbildung dargestellt.
Die bewährte Therapie der bestätigten VITT setzt sich aus Immunglobulingabe, hochdosiertem Kortikosteroid und Antikoagulation zusammen. Die Verabreichung der Immunglobuline soll intravenös in einer Dosierung von 0,5–1 g/kg Körpergewicht über 2 Tage erfolgen und ohne Zeitverzögerung bei Diagnosestellung eingeleitet werden. Zur Antikoagulation sollen bevorzugt Non-Heparine gewählt werden. Die beste Datenlage ist bislang für den parenteralen Thrombininhibitor Argatroban (ARGATRA®) vorliegend. Alternativ können auch Fondaparinux (Arixtra®) oder DOAK-Präparate verordnet werden. Beim Einsatz von DOAK bei VITT ist zu beachten, dass eine Thrombozytenzahl > 50 × 109/l vorliegen soll. Vermieden werden sollten in jedem Fall sämtliche Heparine sowie auch Vitamin-K-Antagonisten (VKA). Die additive Steroidgabe zusätzlich zu intravenösem Immunglobulin (IVIG) und Antikoagulation gilt insbesondere bei initialer Thrombopenie < 50 × 109/l (z. B. Prednison 1–2 mg/kg Körpergewicht) indiziert. In der überwiegenden Anzahl der Fälle kann ein gutes und insbesondere auch sehr rasches Ansprechen der Kombinationstherapie mit IVIG, Steroid und Antikoagulation verzeichnet werden. Bei therapierefraktärer schwerer Thrombopenie < 30 × 109/l wäre ein Plasmaaustausch in Erwägung zu ziehen.
Die VITT stellt eine seltene, jedoch ernste Komplikation von COVID-19-Vektorimpfstoffen dar. Trotz der limitierten Datenlage ist es essenziell, betroffene Patienten rasch zu identifizieren und eine Therapie gemäß den aktuellen Empfehlungen einzuleiten. Wie lange eine Antikoagulation bei diesen Patienten notwendig ist, bleibt weiterhin offen, und auch die Frage, ob zukünftige adenovirusbasierte Impfungen bei diesen Patienten kontraindiziert sind, kann derzeit nicht beantwortet werden. Innerhalb kürzester Zeit ist es gelungen, einige zentrale Erkenntnisse zu dem Krankheitsbild der VITT hervorzubringen. Weiterhin bestehen jedoch auch diverse Unklarheiten, mitunter bezüglich der kausalen Rolle der PF4-Antikörper im Rahmen der Immunantwort und auch bezüglich von Biomarkern, um gefährdete Patienten für eine VITT vorab zu identifizieren. Eine fortbestehende Awareness und Erforschung dieses Syndroms sind erforderlich, um das Verständnis zu erweitern und das klinische Outcome dieser Patienten zu verbessern.
Wie behandle ich richtig in dieser Situation? |
Assoz. Prof. Priv.-Doz. Dr. Thomas Gary |
Die Corona-Pandemie hat unser aller Leben massiv beeinflusst. Speziell im Gesundheitsbereich wird uns das Tragen von Masken sowie das regelmäßige Testen noch in den nächsten Monaten begleiten. Umso größer war die Freude aller, als mit Herbst/Winter 2020 klar wurde, dass mehrere Impfungen gegen COVID-19, die auf unterschiedlichen Wirkmechanismen basieren, zeitnah zum Einsatz kommen werden. Allgemein werden Impfungen auf mRNA- und Vektorbasis unterschieden. Die Vektorimpfungen zeigten speziell bei jüngeren Probanden eine sehr gute Immunantwort, die sich auch in gesteigerten grippalen Symptomen nach der Impfung widerspiegelten. Verunsicherung machte sich allerdings breit, als im März dieses Jahres erste Fälle von Thrombosen an unüblichen Orten ca. 1 bis 2 Wochen nach der Impfung mit einem Vektorimpfstoff von AstraZeneca (und etwas später auch nach der Impfung mit dem Vektorimpfstoff von Johnson & Johnson) beschrieben wurden. Diese dabei auch auftretende Gerinnungsstörung zeichnete sich durch eine ausgeprägte Thrombozytopenie, sehr hohes D-Dimer sowie im weiteren Verlauf durch eine Erniedrigung des Fibrinogens aus. Weiters wurden bei manchen Patientinnen (und es waren tatsächlich meist 20- bis 55-jährige Frauen) Antikörper gegen Plättchenfaktor 4 (Pf4) objektiviert. Aufgrund dieser Phänomene wurde dieses Erkrankungsbild als vakzininduzierte thrombotische Thrombopenie („vaccine-induced thrombotic thrombocytopenia“, VITT) beschrieben und wegen der Pf4-Antikörper auch eine Querverbindung zur heparininduzierten Thrombopenie (HIT) vermutet. Diese Erkrankung, bei der die Pf4-Antikörper auf Heparinreiz gebildet werden, gibt es auch in einer spontanen Form, die ohne vorhergehenden Heparinkontakt auftreten kann. Diese Erkrankung wird als autoimmune HIT (aHIT) bezeichnet. Als gute Therapie für diese aHIT hat sich in den letzten Jahren die Gabe von parenteralen Immunglobulinen (IVIG) etabliert.
Aus oben genannten Gründen war es somit naheliegend, die Gabe von IVIG auch als Therapieoption der VITT zu untersuchen. Bei dieser Therapie wird an zwei aufeinanderfolgenden Tagen IVIG (1 g pro kg KG pro 24 Stunden) gegeben. Dieses Immunglobulin blockiert dann die Rezeptoren an der Thrombozytenoberfläche, sodass andere Antikörper nicht binden können. In den beschriebenen Fällen erholte sich die Thrombozytenzahl rasch, und die thrombosegefährdende Situation konnte rasch unterbrochen werden, sodass die IVIG-Gabe derzeit die Basis der VITT-Therapie darstellt.
Da beinahe alle Patienten auch ein thrombotisches Ereignis (meist eine Bauch- oder Beckenvenenthrombose bzw. auch eine Sinusvenenthrombose) haben, stellt sich zudem die schwierige Frage der Antikoagulationsstrategie. Hier scheint angesichts der Blutungsneigung mit Thrombozytopenie (häufig um die 20.000 Blutplättchen/µl) sowie des niedrigen Fibrinogenspiegels (teilweise nicht mehr im Labor messbar) eine Therapie mit einem kurz wirksamen parenteralen Antikoagulans sinnvoll. Da die mögliche Querverbindung zur HIT beschrieben ist, scheint die Antikoagulation mit Heparin nicht optimal zu sein. Eine Therapie mit Argatroban oder einem anderen alternativen parenteralen oder subkutanen Antikoagulans, welches man auch bei HIT geben könnte, hat sich in der Akutsituation etabliert. Sobald die Akutphase mit hochpathologischen Gerinnungsparametern vorbei ist (meist ca. nach einer Woche), kann auch auf eine direkte orale Antikoagulation gewechselt werden. Die Dauer der Antikoagulation scheint auf 3 bis 6 Monate limitiert zu sein. Die exakte Dauer wird wie bei anderen thrombotischen Ereignissen an mehreren Faktoren, wie thrombotische Restlast, Patientenwunsch, Blutungsrisiko etc., festgemacht.
Trotz der derzeit guten Therapiemöglichkeiten sollte man sich in Erinnerung rufen, dass dieses Erkrankungsbild eine Mortalität von 30 bis 40 % aufweist. Die rechtzeitige Diagnose sowie die umgehende Therapieeinleitung speziell mit IVIG scheinen zentral für eine erfolgreiche VITT-Therapie zu sein. Von Maßnahmen, die zu einer scheinbaren Verbesserung der Gerinnungssituation führen (wie zum Beispiel Gabe von Thrombozytenkonzentraten oder Gerinnungsfaktoren), ist dringlich abzuraten, da diese das bereits im Aufruhr begriffene Gerinnungssystem zusätzlich anheizen und meist fatal enden.