Die Österreichische Gesellschaft für Neurologie (ÖGN) diskutierte interdisziplinär mit Fachleuten und Betroffenen über „Postvirale Zustandsbilder“ und ME/CFS.
Auf Einladung der Österreichischen Gesellschaft für Neurologie (ÖGN) fand das 1. interdisziplinäre Konsensustreffen zum Thema „Postvirale Zustandsbilder“ unter Berücksichtigung der Einordnung von „Myalgischer Encephalomyelitis/chronischem Fatigue Syndrom“ (ME/CFS) statt. Das Bestreben der ÖGN war es, anhand von strukturierten Stellungnahmen von Expert:innen aus den Bereichen Neuroinfektiologie, Neuroimmunologie, autonomer Dysfunktion, Schmerz, Psychiatrie und Psychotherapie, Allgemeinmedizin, Allergologie und Immunologie, Innerer Medizin und Public Health eine aktuelle und evidenzbasierte Standortbestimmung im Sinne eines Konsensus Statements zu Genese, Diagnose, sowie Therapiemöglichkeiten bei (möglichen) postviralen Zustandsbildern zu erreichen.
Wesentlich war es der ÖGN dabei, auch Vertreter:innen der Betroffenen aktiv in den gesamten Prozess einzubeziehen, um deren Perspektiven, Anliegen und Bedürfnisse zu erfahren. Zudem waren die Gesundheitssprecher:innen sämtlicher im Parlament vertretenen politischen Parteien und Repräsentant:innen der österreichischen Gesundheitskasse und der Pensionsversicherungsanstalt zu einer abschließenden Diskussionsrunde eingeladen.
In seinem Beitrag zur Begriffsbestimmung stellte Thomas Berger aus Sicht der Neuroimmunologie klar, dass es keine wissenschaftliche Evidenz gebe, dass ME/CFS eine tatsächliche neuroimmunologische Erkrankung sei. Die bislang fehlende wissenschaftliche Evidenz zur Ursache, Entstehung und Therapie des MS/CFS sei auch dem Umstand geschuldet, dass die diagnostischen Kriterien veraltet, unspezifisch und anfällig für Fehldiagnosen seien. Somit sei auch die Bezeichnung „Myalgische Encephalomyelitis“ überholt und am plausibelsten in die Gruppe der „Postinfektiösen Zustände“ einzuordnen, also den Folgezuständen nach (viralen) Infektionen. Eine sichere und unzweifelhafte Diagnose nach modernen wissenschaftlichen Kriterien und internationalen Standards sei die ultimative Voraussetzung und Gewährleistung für Betroffene, dass sie mit den bestmöglichen individuellen symptomatischen Therapien zur Linderung und Besserung ihrer Beschwerden behandelt würden.
Jörg Weber schilderte aus der Perspektive der Neuroinfektiologie bekannte postvirale Zustandsbilder in der Neurologie und betonte die Wichtigkeit, die Pathophysiologie zu verstehen, um daraus gezielte Therapieansätze zu erarbeiten. Die Sichtweise der Betroffenen wurde dargestellt von Joachim Hermisson als Vater einer Betroffenen und als Vertreter der We&Me Foundation. Die Unwissenheit und die mangelnde Unterscheidung von ME/CSF zu chronischer Müdigkeit seien nur Teile der Hilflosigkeit. So gebe es „unsichtbare“ Patient:innen, die komplett hilflos und pflegebedürftig seien. Diagnosemöglichkeiten zu schaffen sei das Ziel. Michael Ströck ergänzte als Bruder von zwei Betroffenen und als Stifter der We&Me Foundation, dass es zu wenig Forschung zu ME/CSF – auch aufgrund von zu wenig finanzieller Unterstützung – gebe.
Erkrankungen des autonomen Nervensystems als Folge viraler Infektionen sind seit langem bekannt, wie der Neurologe Walter Struhal ausführte. Autonome Zentren arbeiteten immer multidisziplinär mit anderen Fachdisziplinen wie Kardiologie, Psychiatrie, Gastroenterologie, Urologie und anderen. Wie bei vielen chronischen neurologischen Erkrankungen stehe die individualisierte patientenzentrierte Behandlung der Beschwerden im Vordergrund, um die Lebensqualität zu verbessern.
Eine Perspektive des niedergelassenen Facharztes mit entsprechendem Schwerpunkt kam von Michael Stingl, der auch als Beirat für die We&Me Foundation fungiert. Wichtig bei ME/CFS sei die klare Unterscheidung von Fatigue, die als Symptom bei vielen Erkrankungen vorkommen könne, mit der für ME/CFS typischen Post Exertional Malaise, wo es durch oft banale Belastung zu einer wesentlichen Verschlechterung des Zustandes über Tage komme. Durch aktuell noch fehlende Aus- und Fortbildung werde diese Differenzierung in der klinischen Praxis oft nicht gemacht, wodurch es für Betroffene zu belastenden Erfahrungen im Gesundheitswesen komme. Eine Differentialdiagnostik sei wichtig, eine aktive Diagnose von ME/CFS inklusive der möglichen Komorbiditäten trotz aller offenen Fragen möglich. Wichtig seien Anlaufstellen für die Betroffenen, da die Versorgung momentan absolut inadäquat sei.
ÖGAM-Präsidentin und Allgemeinmedizinerin Susanne Rabady pochte auf die Hilfe von Betroffenen. Ein einzelnes Kompetenzzentrum könne der Forschung helfen und sei wichtig, aber bringe noch keine Versorgung in der Breite. Ihren Fokus legte sie auf Prävention, Diagnostik, therapeutische Zugänge und Begleitung aus Sicht der Hausärzt:innen. Allgemeinmedizinisch sei die umfassende Differenzialdiagnostik bereits sehr wichtig, bei der Therapie gebe es die Herausforderung, dass es kaum Evidenzen gebe. Bei der Begleitung sei auch wichtig, Patient:innen die Angst zu nehmen. Es gebe noch viel zu tun, der Zugang zu spezialisiertem Wissen sei wichtig, eine spezielle interprofessionelle Ausbildungsmöglichkeit gehöre dazu. (red)