„Ich würde wieder Medizin studieren“

© MedUni Wien / feelimage

Neues reizt sie: Alexandra Kautzky-Willer ist die erste Professorin für Gender Medicine in Österreich. Die studierte Fachärztin für Innere Medizin will jungen Frauen Mut machen, sich der Medizin und Wissenschaft zu widmen.

Sie haben 2010 die erste Professur für Gender Medicine übernommen. Was war der Auslöser dafür, dass Sie sich schon so früh für dieses Fach und diese Spezialisierung entschieden haben?  Die Professur wurde damals an der MedUni Wien ausgeschrieben. Es gab den Plan, dieses ganz neue Feld mit einer Professur zu stärken. Mich hat Neues immer interessiert. Damals war ich bereits in der Frauengesundheit tätig und schwerpunktmäßig mit hormonellen und Stoffwechselerkrankungen befasst. Ein Spezialgebiet dabei war Schwangerschaftsdiabetes. Über die Forschung rund um die Risikofaktoren für Schwangerschaftsdiabetes und die Auswirkungen auf einerseits die Ungeborenen, aber auch die Kinder – und damit beide Geschlechter – bin ich immer stärker in Richtung Gender Medicine gekommen und habe mich auch mit den Männern und deren Risiken für die Entwicklung von Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen beschäftigt.

Sie haben mit Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen wesentliche Volkskrankheiten unserer Gesellschaft in Zusammenhang mit Gender Medicine erwähnt. Wie würden Sie Gender Medicine definieren? Gender Medicine ist nicht Frauenmedizin. Das muss man klar sagen. Es liegt ein Fokus auf der Frauenmedizin, weil hier der Nachholbedarf größer ist. Wir müssen es endlich schaffen, mehr als die Hälfte der Menschheit gut medizinisch abzubilden und die Versorgung gleich gut zu gestalten wie für Männer. Aber prinzipiell beschäftigt sich dieses Fach mit den biologischen und psychosozialen Unterschieden zwischen den Geschlechtern. Das heißt: Wir haben einerseits den starken Einfluss von Geschlechtschromosomen und Sexualhormonen, also den biologischen Hintergrund. Andererseits gibt es die Umweltfaktoren, den Lebensstil, kulturelle Einflüsse, Gender-Rollen und gesellschaftspolitische Faktoren, die hier hereinspielen.

Bleiben wir gleich bei diesem Punkt. Wo sehen Sie den größten Nachholbedarf, die größten Ungleichheiten, wenn es um Männer und Frauen in Bezug auf unser Gesundheitssystem geht? Das ist sehr komplex und vielschichtig. Einerseits haben Frauen eine längere Lebenserwartung als Männer – nach wie vor ungefähr fünf Jahre. Der gesündere Lebensstil und die ausgeprägtere Gesundheitskompetenz spielen hier eine große Rolle. Allerdings beginnen Frauen schon sehr früh, eigentlich mit der Pubertät, über einen schlechteren Gesundheitszustand zu klagen. Das spiegelt sich auch in Gesundheitsbefragungen wider. Wenn wir uns die gesunden Lebensjahre ansehen, so liegen Männer und Frauen ungefähr gleichauf. Das heißt: Bezogen auf die Lebenserwartung haben Frauen einen deutlich – rund 20 Prozent – geringeren Anteil an gesunden Lebensjahren. Obwohl sie gesundheitsbewusster sind und sich auch um die Gesundheit der Familienmitglieder kümmern, profitieren sie davon nicht so, wie sie es sollten: Sie haben viel mehr Arztkontakte, bekommen mehr Medikamente verschrieben – aber oft nicht in der richtigen Dosierung und Kombination. Sie leiden oft an verschiedenen chronischen Krankheiten und Schmerzzuständen. Das beginnt mit der Pubertät und Menstruationsproblemen und zieht sich über viele Fragen, die eine Schwangerschaft mit sich bringt, und führt bis hin zur Menopause, wo sich der Körper dann noch einmal verändert. Frauen sind also ständig mit verschiedenen Herausforderungen konfrontiert, die Männer so nicht kennen. Es müsste daher viel mehr in die Forschung und Behandlung von Krankheiten und gesundheitlichen Problemen von Frauen investiert werden, die vielleicht nicht lebensbedrohlich sind, die aber die Lebensqualität deutlich beeinträchtigen. Ein weiterer Punkt ist, dass manche Krankheiten bei Frauen nicht richtig diagnostiziert werden – zum Beispiel Herzinfarkt oder auch Diabetes. Das liegt unter anderem daran, dass die Symptome nicht richtig erkannt werden. Außerdem wissen wir, dass Frauen oft nicht die innovativsten Medikamente erhalten oder die Dosierungen nicht passen, was zu stärkeren Nebenwirkungen führt.

Wo könnte die Politik nachhelfen, um die Prozesse zu beschleunigen? Wenn es um die Medikamentenentwicklung geht, so liegen die Empfehlungen der EMA (Europäische Arzneimittel-Agentur, Anm.) und FDA (US-Food and Drug Administration, Anm.) schon lange auf dem Tisch: Demnach sollen gleich viele Männer wie Frauen in Studien einbezogen werden, die die jeweilige Krankheit aufweisen. Und natürlich sollen alle Informationen zu geschlechtsspezifischen Unterschieden an die Patientinnen und Patienten sowie an die Ärztinnen und Ärzte weitergegeben werden. Allerdings wird das nicht überprüft und es gibt keine Sanktionen, wenn diese Vorgaben nicht umgesetzt werden. Da bräuchte es wahrscheinlich strengere Regulative. Außerdem müsste es mehr Forschungsförderung im Bereich der Gender Medicine geben, um genau diese Themen aufzuarbeiten. (Das Interview führte Evelyn Holley-Spiess)

Der Text ist ein Auszug aus dem Buch „Jetzt reden wir! Wie Frauen das Gesundheitssystem neu denken“, erschienen im Ampuls-Verlag; ISBN: 978-3-9505385-3-3; 180 Seiten, 29,90 Euro