Peter Fasching, Präsident der Österreichischen Diabetes Gesellschaft ÖDG und Abteilungsvorstand der 5. Medizinischen Abteilung mit Endokrinologie, Rheumatologie und Akutgeriatrie der Klinik Ottakring der Stadt Wien, im Interview.
Wie groß ist die Zahl der Menschen mit Diabetes und wie wird sich das künftig entwickeln? Laut epidemiologischen Analysen glaubt man, dass westliche Staaten künftig nicht mehr so hohe Zuwachsraten haben werden – einfach, weil schon viele Menschen übergewichtig sind. Durch die demographische Entwicklung dürften aber auch bei uns die Zahlen steigen. Das Alter ist mit und ohne Übergewicht für Diabetes ein wichtiger Faktor. Die Schätzungen liegen jetzt zwischen 500.000 und 800.000 Erkrankten. Man kann annehmen, dass in den nächsten 15 Jahren in Österreich bis zu einer Million an Diabetes leiden könnten – dazu fehlen uns aber genaue Daten.
Sie kritisieren seit Jahren, dass ein Diabetesregister fehlt. Jetzt schreiben wir das Jahr 2024, diskutieren über den Einsatz von KI in der Medizin und haben keine validen Daten über so wichtige Erkrankungen wie Diabetes – ist das nicht peinlich für die Politik? Wir werden hier zerreiben zwischen Krankenhausträgern und Krankenversicherungen und der Frage, wer etwas finanziert. Nicht alle Menschen mit Diabetes werden auch laufend betreut und erfasst. Und wenn, dann eben in verschiedenen Bereichen. Wir erwarten Verbesserungen durch die im kommenden Jahr geplante Einführung der Diagnosekodierung im niedergelassenen Bereich und die Integration des Disease Management Programmes „Therapie Aktiv 2.0“ in Kooperation mit den Sozialversicherungsträgern. Wenn wir genaue Zahlen haben, können wir auch ableiten, welche Strukturen wir in Österreich generell und welche wir extramural wirklich brauchen.
Im Finanzausgleich wurden jetzt mehr Gelder freigemacht: zu Stärkung des niedergelassenen Bereiches und auch für die Diabetesversorgung. Wie beurteilen Sie das? Das ist natürlich relevant. Wenn wir Leistungen in den extramuralen Bereich transferieren wollen, dann ist wichtig, dass Geld dafür zur Verfügung gestellt wird. Es geht aber nicht darum, dass jene, die Leistungen schon jetzt anbieten, mehr Geld bekommen. Wir müssen neue Leistungsschienen aufmachen. Ein Beispiel: wir haben Diagnosestraßen im niedergelassenen Bereich. Es geht aber nicht um die Diagnostik, sondern um die Frage, was nach der Diagnose passiert. Wir können Spitalsambulanzen nur entlasten, wenn wir ein gleichwertiges niedergelassenes Angebot schaffen, das auch Gesprächsmedizin integriert. Wir können nicht alle Diabetespatient:innen in den Ambulanzen betreuen. Wir müssen auch extramural etwas anbieten. Diese Versorgungsstrukturen müssen bundesweit einheitlich finanziert werden. Zum Beispiel durch neu zu definierende Leistungspositionen für niedergelassene Internist:innen mit Spezialisierung in Endokrinologie und Diabetologie.
Warum geht sich das in Ambulanzen nicht aus? Auch in den bestehenden Spezialambulanzen ist häufig die interdisziplinäre Personalausstattung, bestehend aus Diabetolog:innen, Diätolog:innen, Psycholog:innen und Diabetesschulungspersonal, nicht adäquat verfügbar. Diese betrifft auch pädiatrische Diabeteszentren, für welche die ÖDG evidenzhinterlegte Zahlen zur Strukturqualität publizieren wird. Die komplexe Insulintherapie oder Insulinpumpen/Glukose-Sensorensysteme werden jetzt in erster Linie über die Spitalsambulanzen betreut. Das schaffen wir in Zukunft aber nicht mehr. Kein niedergelassener Internist betreut gerne Menschen mit Diabetes, weil diese therapeutische Leistung nicht optimal abgegolten wird. Vor allem weil der nicht bezahlte Gesprächsaufwand groß ist. Also wird das oft querfinanziert mit diagnostischen Leistungen. Das ist ein zentrales Thema in der österreichischen Gesundheitslandschaft. Wir brauchen daher im niedergelassenen fachärztlichen Bereich eine diabetologische Spezialisierung. Und dafür auch die entsprechende Honorierung. Wir als ÖDG haben einen Katalog an Leistungen aufgestellt, die Zeitaufwand und Kompetenzen erfordern. Das muss von den Kassen geleistet werden.
Wie soll das aussehen? Prinzipiell wird zwischen drei Versorgungsebenen unterschieden, wobei die erste die Primärversorgungsebene ist. In dieser soll in Zukunft über die erstmalige „Diagnosecodierung; Diabetes mellitus Typ 2“ mit Hilfe von ELGA neu das Disease Management Programm Diabetes mellitus Typ 2 „Therapie Aktiv 2.0“ aufgerufen werden unter Einschluss anderer Gesundheitsberufe mit interdisziplinärer Vernetzung (Diabetesspezialisierte Pflege, Diätologie). Dies kann/soll in einem Primärversorgungszentrum für Allgemeinmedizin oder in einer Einzelordination für Allgemeinmedizin oder Innere Medizin erfolgen. Derzeit gibt es in Österreich aber als strukturierten Diabetes-bezogenen „Überbau“ nur die 3. Versorgungsebene mit spezialisierten Diabetesambulanzen angeschlossen an Krankenanstalten oder spezielle Diabetesambulanzen/“-zentren“ der Gesundheitskasse, wie in Wien, natürlich ausschließlich im urbanen Bereich. Für die 2. Versorgungsebene hat sich im Rahmen der Landeszielsteuerungskommission in Wien eine besondere Initiative zwischen Wiener Gesundheitsverbund und Gesundheitskasse Wien gebildet, welche die Etablierung/Führung gemeinsam betriebener ambulanter „Diabeteszentren“ beinhaltet.
Was machen diese? Das erste in Betrieb befindliche Zentrum ist in der Versorgungsregion Süd in Favoriten das „Diabeteszentrum am Wienerberg“ (Leitung Doz. Brix/Prof. Ludvik), ein zweites ist im Entstehen in der Versorgungsregion Nord, ein drittes ist in Planung in der Versorgungsregion West. In diesen „Zentren“ sind alle Gesundheitsberufe vertreten, aber ausschließlich im „Angestelltenverhältnis“, auch die Ärzt:innen, die bei einer zugewiesenen Krankenanstalt des WIGEV beschäftigt sind. Die Kostenaufteilung für Errichtung und Betrieb ist vertraglich zwischen den beteiligten Partnern vereinbart, orientiert sich aber nicht am Katalog der zu erstattenden medizinischen Leistungen im niedergelassenen Bereich – weil es diese Erstattung für die 2. Versorgungsebene etwa beim Diabetes und anderen metabolischen und endokrinologischen Erkrankungen nicht gibt. Für niedergelassene, selbstständige Facharztzentren mit Ausrichtung auf Diabetes und andere metabolische/endokrinologische Erkrankungen in Analogie zu den bestehenden Primärversorgungszentren für Allgemeinmedizin oder den neu entstehenden Versorgungszentren für Kinderheilkunde müssen aber neben der Abdeckung der Kosten für die anderen Gesundheitsberufe vor allem zuerst die ärztlichen spezialisierten ärztlichen Leistungen in diesem Bereich definiert und adäquat honoriert werden.
Und hier fehlt das Geld? Ja, für diese Finanzierung fehlt das Geld beziehungsweise die Bereitschaft der involvierten Player, weil natürlich auch Mittel des derzeitigen Spitalsambulanzbereiches dafür angesprochen werden, da ja durch die Etablierung einer adäquaten 2. Versorgungsebene die dritte spezialisierte Spitalsambulanzebene „entlastet“ werden soll. Wir brauchen österreichweit zur Gewährleistung einer flächendeckenden Versorgung auch außerhalb der urbanen Ballungszentren eine 2. kassenfinanzierte, extramurale Versorgungsebene vor allem für Diabetes mellitus und andere Stoffwechselerkrankungen.
Und was passiert mit den vieldiskutierten Medikamenten zur Gewichtsreduktion? Derzeit gibt es für die als incretinbasierte Medikamente bezeichneten Arzneimittel nur eine Regelerstattung für Menschen mit Diabetes Mellitus Typ 2 unter definierten Rahmenbedingungen. Erschwerend ist vor allem dass die Erstgenehmigung der Refundierung über Spitalsambulanzen erfolgen muss. Auch hier muss es in Zukunft möglich sein nach den gleichen Spielregeln Erstgenehmigungen über den niedergelassenen Bereich zu bekommen. Generell werden Medikamente zur Gewichtsreduktion ohne begleitende Diagnose eines Diabetes Mellitus Typ 2 in Österreich nicht von den Krankenkassen bezahlt. Doch auch hier kommt Bewegung ins Spiel: für bestimmte Pathologien bei krankhaftem Übergewicht wird eine Kassenerstattung diskutiert. Diese künftige Erstverordnung kann aber sicherlich nicht ausschließlich über Spitalsambulanzen laufen, denn sonst sind wieder Wartezeiten vorprogrammiert. (Das Gespräch führte Martin Rümmele)