Der Corona-Diskurs dürfe nicht zu rigiden Frontenbildungen führen, fordert Johannes Steinhart, Vizepräsident der Österreichischen Ärztekammer im RELATUS-Interview. Er wünscht sich mehr Gespräche, statt Drohungen.
„Wir müssen aufpassen, dass wir nicht unsere Diskussionskultur zerstören. Also bitte Schluss mit hemmungslosen Polarisierungen, und mehr Bereitschaft zum Dialog, zum Meinungsaustausch und zu einem lösungsorientierten gemeinsamen Konsens“, fordert Johannes Steinhart, Obmann der Wiener Kurie und der Bundeskurie niedergelassene Ärzte und Vizepräsident der Wiener und der Österreichischen Ärztekammer. Zuletzt habe genau das in der Pandemie oft gefehlt. Den Appell richtet Steinhart dabei an die Gesellschaft, aber auch an die Standeskollegen: „Wir müssen als Ärzte als Vertrauenspersonen dastehen und die Äquidistanz zum Geschehen haben, damit wir auch für Zweifler und verunsicherte Menschen ein guter Gesprächspartner sein können.“ Eine Erhöhung der Impfbereitschaft erreiche man nicht durch Verurteilungen, sondern Überzeugungsarbeit, sagt er im RELATUS-Interview.
„Die ideologische Polarisierung in unserer Gesellschaft ist alarmierend und besorgniserregend. Es wird bedrohlich, wenn unterschiedliche Positionen nicht mehr ausdiskutiert werden können und zu rigiden Frontenbildungen führen, wenn haarsträubende Fake News für viele Menschen – leider auch für einzelne Ärztinnen und Ärzte – mehr gelten als wissenschaftliche Daten, und wenn die Bereitschaft zum Ausgrenzen und Verurteilen gefährlich zunimmt.“ Dann bestehe nicht nur Gefahr für die Demokratie, sondern auch für ein dem Patientenwohl verpflichtetes ärztliches Miteinander, warnt Steinhart.
Generell sei ein Trend zu beobachten, der vielfach als Hyper-Moralisierung von Auffassungsunterschieden bezeichnet wird: „Das weltanschauliche Gegenüber hat nicht nur einfach eine andere Meinung, sondern wird zum gewissenlosen, amoralischen und gefährlichen Feind punziert, mit dem man nicht spricht, den man diskreditiert und bekämpft. Tragisch, dass gegenwärtig eine Verhärtung der Fronten auch in der Ärzteschaft zu beobachten ist.“
Einer oft verwendeten Definition zu Folge sei Medizin eine qualifizierte Leistung, die sich wissenschaftlicher Methoden bedient, und deren Ziel es ist, Menschen bestmöglich zu helfen, Krankheiten nach Möglichkeit zu verhindern und zu heilen, betont Steinhart: „Selbstverständlich haben Patientinnen und Patienten ein Anrecht darauf, dass Ärztinnen und Ärzte sie gemäß den gültigen wissenschaftlichen Erkenntnissen informieren und behandeln. Die überwältigende Mehrheit unserer Kolleginnen und Kollegen ist auch im Corona-Kontext einer evidenz-basierten Medizin verpflichtet und leistet verantwortungsvolle, kompetente und patientenorientierte Arbeit. Medizinische Verantwortungslosigkeiten einer sehr kleinen Minderheit, die sachlich und mit Studien leicht widerlegt werden können, sind zu verurteilen. Trotzdem soll jede Kollegin und jeder Kollege immer individuell, auf Basis seiner Beurteilung frei entscheiden können dürfen. Diese Grundregel muss selbstverständlich auch in der Pandemie Gültigkeit haben.“ Generell sei Reden immer besser als Verurteilen und Gesprächsverweigerung. Er wünsche sich aber den Konsens, dass wissenschaftliche Evidenz die Basis für ärztliches Handeln sein muss.
Generell sieht Steinhart in einigen Bereichen ärztliche Freiberuflichkeit in Gefahr: „Gängelung durch die Politik, Kontrollwut der Kassenbürokratie und das Gewinnstreben von Konzernen, die längst an Privatisierungen im Gesundheitssystem arbeiten, wollen unsere Freiheiten und Spielräume einschränken. Es darf nicht sein, dass uns Nichtmedizinern vorschreiben, wie wir wann zu diagnostizieren und zu therapieren haben.“ Überzeugungsarbeit leisten will Steinhart bei einer zentralen Lehre aus der Coronakrise: „Wir haben gesehen, dass eine Versorgungsreserve ungemein wichtig ist, damit unser System für künftige Krisen resilienter wird. Das bedeutet mehr Ärzte, mehr Pflegekräfte, mehr Spitalsbetten, etc. Also ein Versorgungs-Upgrading, und eine klare Absage an das Credo mancher Gesundheitsökonomen, dass wir überausgestattet seien.“ (rüm)