Stefan Thurner vom Complexity Science Hub Vienna (CSH) warnt eindringlich vor einem verfrühtem Aufheben der Corona-Virus-Maßnahmen. Die Plattform der Medizinuni Wien analysiert derzeit die Entwicklungen und berät die Regierung.
Vom leichten Abflachen der Infizierten-Kurve dürfe man sich nicht zu optimistisch stimmen lassen, sagte Thurner. Die Verdoppelungszeit der nachgewiesenen Infektionsfälle habe sich zwar von zwei Tagen vor rund zwei bis drei Wochen auf etwa vier Tage erhöht, sagte der Professor für die Wissenschaft Komplexer Systeme an der Medizinischen Universität Wien. Aber: „Es geht nach wie vor sehr, sehr schnell hinauf.“ Es sei zwar wunderbar, wenn die Maßnahmen wirken, aber: Wenn sich alle vier Tage etwas verdoppelt, „ist es fast so schlimm wie wenn sich etwas alle zwei Tage verdoppelt“. Wenn man die Kurve der Todesfälle in Österreich um drei Wochen nach vorne zieht, „dann liegt sie genau auf der Kurve der Toten in Italien“, sagte er.
Es sei wichtig, den Blick auf die Zahl der Intensiv-Patienten und Toten zu legen, als auf die Zahl der nachgewiesenen Infektionen, betonte Thurner. Denn erst jetzt sehe man langsam, wie viele Betten tatsächlich belegt werden und wie viele Betroffene tatsächlich durch das Virus sterben. Die Verdoppelungszeit bei den Toten liege bei etwa drei Tagen, die Verdoppelungszeit bei den Intensivbetten bei zwei Tagen und sechs Stunden. „Das geht sehr schnell. Da ist derzeit kein Anzeichen, dass das besser wird“, so die Warnung. Natürlich könnte es sein, dass die Kurve in Österreich schneller abflacht, sagte der Experte. Auf validen Daten würde diese Hoffnung aber derzeit nicht stehen: „Man kann darauf hoffen, dass Österreich besser aufgestellt ist und die Kurve früher abflacht, aber man kann nur hoffen. Zur Zeit sieht es so aus, als gingen die Zahlen der Toten genauso los wie in Italien.“ Und: „Für eine Entwarnung ist es zu früh.“
Thurner verwies auf zwei Szenarien, von denen beide aus derzeitiger Sicht gleich wahrscheinlich sind – ein Best- und ein Worst-Case-Szenario. Im besten Fall würde es Anfang April zu einem Peak der Infizierten kommen, das Gesundheitssystem könnte das stemmen. Dann könnte man ab etwa 14. April „in sehr geplanter Art und Weise Leute wieder zurückführen in die Arbeit“. Freilich wären dann noch nicht alle Österreich immun gegen das Virus. Daher müsste man dann „gezielt“ so viele Personen in den Arbeitsprozess zurückkehren lassen, dass es nicht neuerlich zu einem exponentiellen Ausbrauch kommt. Im Worst-Case-Szenario geht Thurner von nur einer leichten Verbesserung beim Anstieg der Infektionsfälle aus – von derzeit vier Tagen Verdoppelungszeit auf sechs Tage. „Wenn man annimmt, dass es bis zur vierten Aprilwoche dann so bleiben würde, dann sind wir bei einem Szenario, das mit Hunderttausenden Angesteckten und Erkrankten einhergeht. Das hält das Gesundheitssystem nicht mehr aus.“ Er verwies aber auf asiatischen Staaten, die ihren Verdopplungszeitraum auf über sechs Tage gehoben haben: „Es gibt also Optimismus auch.“ Welches Szenario eintritt, sei derzeit unmöglich zu prognostizieren. (apa)