Personalmangel, Lieferengpässe, Konflikte zwischen den Berufsgruppen, unterversorgte Patient:innen: Was ist los im Gesundheitswesen? Eine Analyse in 2 Teilen.
Beobachtet man das Gesundheitswesen in den vergangenen Monaten, entsteht der Eindruck, dass das System kurz vor dem Kollaps steht. Selbst langjährige Beobachter wundern sich, wenn man mit ihnen spricht, wie es so rasch dazu kommen konnte, dass ein System, das immer als „das Beste der Welt“ beschrieben worden ist, scheinbar plötzlich vor dem Kippen steht: Personalmangel in allen Bereichen, Lieferengpässe von Medikamenten und Medizinprodukten, Konflikte zwischen den Berufsgruppen, unterversorgte Patient:innen. Horrormeldungen überschlagen sich nahezu täglich. Zuletzt machten Bilder die Runde, wo in Osttirol bei einem Augenarzt – ohne Kassenvertrag – 150 Menschen auf die Straße standen, um einen Behandlungstermin zu bekommen. Bisher war oft die Rede davon, dass Wahlärzt:innen vor allem in Ballungsräumen zunehmen.
Die Ursache für all diese Probleme lässt sich auf einen Nenner bringen: Österreichs Gesundheitswesen ist nach wie vor Weltklasse und mit etwa 3 % unbesetzten Kassenstellen auch nicht kurz vor dem Ende. Natürlich führt die demographische Entwicklung zu mehr Nachfrage nach Gesundheitsleistungen und weniger Personal. Das erklärt aber nicht die jetzige Dramatik. Das Hauptproblem: Unser System ist nicht krisensicher. Bei all den Herausforderungen, die wir jetzt sehen, dürfen wir nicht übersehen, dass es gerade eine massive und zeitlich ungewöhnlich frühe Welle verschiedenster Infektionen gibt. Und das führt logischerweise auch zu Personalausfällen bei gleichzeitig starker Nachfrage. Darauf waren Spitäler, niedergelassener Sektor und auch die Industrie nicht vorbereitet. Weil man sich geweigert hat, mit neuen Krisen zu rechnen, hat man sich auch nicht dafür gerüstet und entsprechende Puffer geschaffen.
Genau hier liegt auch der Kern der Probleme: Denn alle Verantwortlichen – vom Minister über die Bundesländern bis zu Spitalsmanager:innen und viele Expertinnen – haben die Beschäftigten im System und die Bevölkerung in der ersten Corona-Welle vertröstet, dass mit dem Ende der Pandemie alles wieder wie früher wird. Lücken, die sichtbar wurden, hat man nicht behoben, sondern gehofft, dass es ohnehin wieder besser wird. Wir alle haben uns der Hoffnung angeschlossen. Bei der nächsten Welle wurde das Murren lauter, behoben wurden die Probleme auch diesmal nicht. Und wieder folgte auf die Hoffnung auf Besserung eine weitere Welle. Da half auch die Versprechung der Impfung wenig. Die Bereitschaft sich vertrösten zu lassen nahm ab und wich bei vielen Beschäftigten im Gesundheitswesen deutlichem Ärger. Reformiert wurde nichts. Ein Bonus da, ein Hinweis auf bessere Ausbildung dort. Und so kam es wie es kommen musste: Zwar scheint Corona eingedämmt und dennoch bringt eine neue Welle – diesmal mit anderen Viren – das System in Bedrängnis. Es ist nicht verwunderlich, dass die Gesundheitsbeschäftigten spätestens jetzt die Nase voll haben.
Ursache für die Vertrösterei und an den Problemen selbst ist das seit Jahren von der Politik und ihren Beratern getrommelte Dogma, dass die Gesundheitsausgaben massiv steigen, das System zu teuer und ineffizient ist und deshalb gespart werden muss. Puffer für Krisenzeiten wurden abgebaut mit der Hoffnung, dass die Krisen nie eintreten. Seit 2020 sehen wir aber das Gegenteil: Krisen nehmen zu. Auf Corona folgen die wirtschaftlichen Folgen des Ukrainekrieges und die ersten, deutlich sichtbaren Folgen der Klimakrise. Wir sind also doppelt gefordert: wir müssen nicht nur die aktuellen Probleme beheben, sondern auch Ressourcen aufbauen für die nächsten Krisen. Viele Gesundheitsbeschäftigte zweifeln in der Zwischenzeit daran, dass beides möglich ist – und gehen. (rüm)