Pharmakonzerne stoppen zunehmend die Forschung nach neuen Antibiotika, obwohl WHO und EU vor zunehmenden Resistenzen warnen. Ärztekammer-Präsident Thomas Szekeres fordert im RELATUS-Interview öffentliche Forschung oder sogar öffentliche Pharmafirmen.
Der Internationale Pharmaverband (IFPMA) hatte erst 2016 eine „Industrie-Allianz“ („AMR Industry Alliance“) zum Kampf gegen die Resistenzen gegründet. Etwa 100 Unternehmen hatten eine gemeinsame Erklärung unterzeichnet. Darin sagten sie unter anderem zu, in die Forschung in diesem Bereich zu investieren. Doch obwohl die Ausbreitung resistenter Keime als eine der größten globalen Gefahren gesehen wird, stoppen Pharmaunternehmen nun zunehmend die Forschung an neuen Antibiotika. Beobachter berichten, dass fast die Hälfte der Firmen, die unterzeichnet und damals zu Antibiotika geforscht haben, mittlerweile nicht mehr in dem Bereich aktiv ist.
Die Resistenzen gegen Antibiotika gelten neben dem Klimawandel als eine der größten globalen Gesundheitsgefahren. Die Vereinten Nationen warnen, dass die Todeszahlen in die Höhe schnellen, falls nicht sofort gehandelt werde. Demnach könnten durch resistente Keime bis 2050 jedes Jahr zehn Millionen Menschen sterben. „Die Antibiotikaforschung stellt die Unternehmen, die sich darin engagieren, vor extreme Herausforderungen: Die Erfolgsquote von Entwicklungsprojekten für neue Antibiotika beträgt nicht einmal ein Prozent“, sagt Pharmig-Generalsekretär Alexander Herzog. Das bedeute, dass über 99 Prozent der Projekte scheitern und abgeschrieben werden müssen. „Wird trotz hohen Risikos nach vielen Jahren und hohen Investitionen erfreulicherweise ein neues Antibiotikum auf den Markt gebracht, so gilt für dessen Anwendung: Es ist sorgfältig und möglichst selten einzusetzen, um neue Resistenzen zu verhindern. Damit haben die Unternehmen nur eine sehr begrenzte Aussicht auf einen Return-on-Investment.“
Ähnlich argumentiert das Forum der forschenden pharmazeutischen Industrie in Österreich. „Mit der Medizin von gestern und heute lassen sich nicht die gesundheitlichen Herausforderungen von morgen angehen. Doch Forschung und Entwicklung ist mit einem großen Risiko behaftet, denn sie kostet Zeit und Geld. Es muss dafür gute Rahmenbedingungen für Innovation geben, um als forschende Unternehmen erfolgreich sein zu können“, sagt FOPI-Präsident Ingo Raimon. Das sei bei Antibiotika derzeit nicht gegeben. Fakt sei, dass sich die Entwicklung neuer Antibiotika kaum refinanzieren lässt, da diese nur im Notfall – also im Therapiebaum oft an letzter Stelle – eingesetzt werden sollen.
Die Situation ist für den Präsidenten der Österreichischen Ärztekammer, Thomas Szekeres „mehr als bedenklich aber nachvollziehbar.“ Den Konzernen gehe es um Gewinnoptimierung und nicht um gesundheitspolitische Notwendigkeiten, formuliert er. „Aus diesem Grund sind wir auch gegen eine Konzernisierung der Medizin.“ Als Weg könnte er sich eine gezielte Förderung von Universitäten und eventuell „Gründung von Pharmafirmen durch die öffentliche Hand“ vorstellen. „Hier müssten mehrere Staaten zusammenwirken, aber man könnte nach medizinischer Notwendigkeit und nicht ausschließlich nach zu erwartenden Gewinn agieren“, sagt Szekeres.
Die Pharmig wertet „positiv“, dass einzelne Firmen immer noch an nicht Erreger-spezifischen Antibiotika als auch an solchen forschen, die gezielt gegen bestimmte Bakterien wirken beziehungsweise auch die Entwicklung von Impfungen gegen bakterielle Infektionen vorantreiben. Herzog: „Immerhin wurden in den letzten sechs Jahren über zehn neue Antibiotika zugelassen, die entweder Resistenzen überwinden oder in der Bekämpfung von seit jeher schwer behandelbaren Infektionen zur Anwendung kommen.“ Die Leitlinie „Antiinfektiva“, die die Pharmig gemeinsam mit Systempartnern – darunter die Ärztekammer – im Zuge der Initiative „Arznei & Vernunft“ im Vorjahr herausgebracht habe, soll einen wichtigen Beitrag für den sorgfältigen Umgang mit Antibiotika zumindest in Österreich leisten. (rüm)
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