Johannes Steinhart, Vizepräsident der Ärztekammer, fordert angesichts des Höchststandes bei Neuinfektionen klare und nachvollziehbare Regeln. Meduni-Wien-Virologin Elisabeth Puchhammer-Stöckl warnt vor einem „Kontrollverlust über das Infektionsgeschehen“ und auch AGES-Experte Franz Allerberger ist besorgt.
Immer mehr Mediziner sehen den Anstieg der Neuinfektionen als wachsende Gefahr für das Gesundheitswesen. Nachdem zuletzt Experten aller Medizinuniversitäten, der Ärztekammer und der Wiener Krankenhäuser vor einem Versorgungsengpass gewarnt haben, wird nun Kritik an den Maßnahmen der Politik lauter. So warnt die Virologin Elisabeth Puchhammer-Stöckl von der Meduni Wien in einem Mail an mehrere Personen der Task-Force des Gesundheitsministeriums davor, dass die Kontrolle über das Infektionsgeschehen verloren gehen könnte. Es sei zunehmend schwierig den Infektionsweg nachvollziehen zu können. Überraschende Wortmeldungen kamen am Wochenende auch von Franz Allerberger, dem Leiter der Abteilung für „Öffentliche Gesundheit“ der AGES, der bisher das Virus oft als harmlosere Erkrankung, als ursprünglich gedacht dargestellt hat. In einem ORF-Interview erklärte er, dass die Sterblichkeit bei älteren Menschen deutlich höher sei, als bei der saisonalen Grippe, und man deshalb auf die Spitalskapazitäten achten müsse.
„Wir müssen aufpassen, dass wir nicht unser blaues Wunder erleben“, sagt Allerberger. Er geht davon aus, dass „die Fallzahlen sich verdoppeln oder noch höher gehen werden. Wenn wir einmal 4.000 oder 5.000 Neuinfektionen am Tag haben, müssen wir damit rechnen, dass die medizinische Versorgung auf Engpässe trifft, dass wir Todesfälle in Altersheimen sehen werden und die Politiker dann massiv unter Druck kommen. Aber wir können im Prinzip die einzelnen Todesfälle nicht verhindern, sondern wir können nur den Ablauf ein bisschen nach hinten schieben – ‚Flatten the curve‘ wie es heißt.“ Den eigentlichen Gipfel der Infektionen sieht der Infektiologe „im Dezember oder Jänner“, und meint zur derzeit herrschenden Diskussion über die Verschärfung der Maßnahmen der Regierung: „Es ist nicht so, dass bei jeder Maßnahme hundertprozentig belegt ist, dass sie die richtige Wirkung hat. Die Sperrstunde vorverlegen ist ein gutes Beispiel. Viele sagen, das ist ein Fehler, weil die Leute dann privat feiern. Aber es ist eine von vielen Maßnahmen. Es signalisiert, dass wir eben soziale Kontakte reduzieren müssen. Es geht darum, das Problembewusstsein zu unterstreichen.“
Ein entsprechender Appell an das Gesundheitsministerium kommt am Wochenende auch von Johannes Steinhart, Obmann der Bundeskurie niedergelassene Ärzte und Vizepräsident der Österreichischen Ärztekammer: „Es muss in der Bekämpfung der Corona-Pandemie endlich klare und nachvollziehbare Regeln für die Bevölkerung geben, und es muss Schluss damit sein, die Menschen mit Intransparenz, Konfusion und Geheimnistuerei zu verunsichern.“ Der bisherige Höchststand bei den Neuinfektionen, verdeutliche den Ernst der Lage und mache ein kompetentes gesundheitspolitisches Vorgehen dringend erforderlich. „Wenn Maßnahmen angekündigt, dann bis wenige Stunden vor dem geplanten Inkrafttreten hinausgezögert und schlussendlich verschoben werden – dann verstärkt das den Eindruck, dass viele gesundheitspolitische Maßnahmen gegen die Pandemie unüberlegt und mangelhaft vorbereitet werden“, sagt Steinhart. Die Bewältigung der Corona-Krise werde der Bevölkerung die Bereitschaft zum Mitmachen und auch viele Opfer abverlangen. Umso wichtiger sei es, Entscheidungen auf transparenter und gut nachvollziehbarer Basis zu treffen und überzeugend und schlüssig zu kommunizieren. „Da gibt es allerdings noch viel Luft nach oben.“ (red)