Die Weltgesundheitsorganisation hat alle Länder dazu aufgerufenen, die Beschränkungen zur Bekämpfung des Coronavirus beizubehalten. Eine Öffnung ohne das Virus unter Kontrolle zu haben sei ein „Rezept für eine Katastrophe“, sagte WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus.
Tedros gestand ein, dass viele Menschen von den ihnen auferlegten Einschränkungen inzwischen ermüdet wären und nach acht Monaten mit dem neuen Coronavirus zur Normalität zurückkehren wollten. „Wir möchten, dass Kinder zur Schule zurückkehren und Menschen an den Arbeitsplatz zurückkehren – aber wir möchten, dass dies sicher geschieht“, sagte Tedros bei einer Pressekonferenz. „Kein Land kann einfach so tun, als wäre die Pandemie vorbei“, warnte er. „Die Realität ist, dass sich das Virus leicht verbreitet. Eine unkontrollierte Öffnung ist ein Rezept für eine Katastrophe.“ Ebenso rief die WHO aber auch auf, auf Demonstrationen gegen staatliche Corona-Maßnahmen mit Besonnenheit zu reagieren. Die Regierungen sollten nicht überreagieren, sagte WHO-Experte Mike Ryan: „Die wirklich wichtige Sache ist, in einen Dialog einzutreten.“ Gerade jetzt komme es darauf an, nicht noch mehr Spaltung in der Gesellschaft zu befördern.
Überzeugungsarbeit zur Notwendigkeit von Maßnahmen könne manchmal scheitern. „Aber es ist wirklich wichtig, dass man nicht seinen Willen aufzwingt“, sagte Ryan. Es gebe ein Recht darauf, nicht zuzustimmen. Ausnahmesituation wie die Corona-Krise erzeugten immer starke Gefühle und Reaktionen. Natürlich sei es auch ein Gebot, dass die Proteste in einer sicheren Art und Weise abliefen, die das Risiko einer Übertragung nicht erhöhe, sagte Ryan weiter. Auch das könne durch Zuhören und Dialog erreicht werden. In Berlin hatten am Samstag Zehntausende gegen die staatlichen Corona-Maßnahmen protestiert. Eine Gruppe von Demonstranten überwand dabei die Absperrgitter am Reichstagsgebäude und stürmte anschließend die Treppen hoch.
Auch die EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides hat davor gewarnt, im Kampf gegen die Corona-Pandemie unvorsichtig zu werden. „Der Mangel an Sorgfaltspflicht ist ein Grund, warum Infektionen in einigen Teilen Europas wieder ansteigen“, sagte Kyriakides der Zeitung „Welt“. Das Risiko einer weiteren Eskalation sei sehr real. Sie verstehe durchaus, dass viele Menschen genug von den Einschränkungen, Vorsichtsmaßnahmen und ständigen Sorgen hätten. „Aber diesen Kampf können wir nur gemeinsam gewinnen. Es gibt keinen Spielraum für Nachlässigkeiten – niemand sollte unachtsam sein“, sagte die Politikerin aus Zypern.
Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) hat am Dienstag ebenfalls vor dem Risiko einer zweiten Welle gewarnt: Mit der „Umsetzung der zentralen Maßnahmen“ wie Ampel und Mundschutz will man sie verhindern. „Wer sich die Geschichte der Pandemien ansieht“, erläuterte der Ressortleiter unter anderem mit Hinweis auf die Spanische Grippe vor rund 100 Jahren, der sehe, dass die zweite Welle jeweils die stärkere war. Sie müsse daher mit aller Kraft vermieden werden. „Einen Schub an Transparenz“ versprach Anschober mit der Ampel, und man solle sich nicht wundern, wenn es am Freitag nicht gleich „Alarmfarben“gebe, und selbst wenn, würde die rote Ampel noch keinen automatischen, neuerlichen Lockdown bedeuten. Im Falle einer derartigen Krisensituation gingen die vorigen Schritte über die Regierung zum Hauptausschuss des Nationalrats. (red/APA)