Gesundheitsminister Johannes Rauch zieht im RELATUS-Interview Bilanz, kritisiert die Sozialversicherung und rechnet mit dem Föderalismus ab: „Es geht nicht um das Wohlbefinden der Landeshauptleute, sondern um das Wohlbefinden der Patient:innen.“
Ihre Amtszeit geht zu Ende – welche Bilanz ziehen Sie? Zu Beginn hatten wir noch eine Corona-Impfpflicht, teilweise Maskenregimes und ein umfassendes Testsystem. Wir mussten erst einmal raus aus dem Krisenmodus. Dann stand die Überführung der Corona-Maßnahmen ins Regelsystem an: impfen, testen, die Versorgung mit den Corona-Medikamenten. Dafür brauchte es neue gesetzliche Maßnahmen. Mir war klar, dass es darüber hinaus generelle Probleme gibt, die angegangen werden müssen: die Zweiklassenmedizin, zu viel Versorgung in Spitälern, zu wenig im ambulanten Bereich, der Mangel an niedergelassenen Ärzt:innen, das komplexe Finanzierungsgefüge, das uns daran hindert, effizient zu sein. Mit dem Finanzausgleich gab es ein Fenster, hier etwas zu verändern. Das müssen wir auch nützen.
Wie war diese Zeit für Sie persönlich? Das war rückblickend die herausforderndste und härteste Challenge meines ganzen politischen Lebens. Ich hab mir oft gedacht: „Warum tu ich mir das an?“ Viele haben mir bei den Reformen gesagt, „da holst du dir einen blutigen Kopf“. Die Verhandlungen über die Gesundheitsreform stand mehrfach vor dem Scheitern. Im Lichte der jetzigen Budgetsituation, halte ich das schon für Meilenstein, dass es gelungen ist, jeweils eine Milliarde für Gesundheit und Pflege freizumachen. Das würde man heute nicht mehr durchbringen. Wir haben damit die Grundlage geschaffen, dass sich Dinge strukturell verbessern. Das Motto „digital vor ambulant vor stationär“ legt den Fokus auf die Primärversorgung. Das wird die Versorgung – auch in den ländlichen Räumen – nachhaltig verändern.
In einigen Bereichen wird aber bereits versucht, Reformen zurückzudrehen. Etwa bei den Community Nurses bremsen sieben von neun Bundesländern. Die Entwicklung im Community Nursing ist ein Beispiel, das mich wirklich ärgert. Das Geld dafür ist da – über eine Milliarde – und über den Finanzausgleich abgesichert. Community Nurses sind die perfekte Prophylaxe, um ältere Menschen dort leben zu lassen, wo sie wollen – nämlich zu Hause. Jeder Tag, wo jemand zu Hause leben kann, ist billiger als ein Tag in Heim. Es ist ein Gebot der Stunde, das zu machen. Alle wissen, dass es sich rechnet, stärker in Vorsorge zu investieren. Dass sich die Länder aus der Verantwortung schleichen, halte ich für abenteuerlich kurzsichtig.
Warum bremsen die Länder dann Ihrer Meinung nach? Das Problem ist, dass die Länder Geld in bestehende Strukturen stecken wollen. Die zusätzlich verhandelten Mittel sind aber nicht dazu da, um Budgetlöcher in den Ländern zu stopfen, sondern um Strukturen zu verbessern. Der Grundsatz muss immer sein: Bevor ich Geld in bestehende Strukturen hineinschütte, hinterfrage ich, welche Reformmöglichkeiten ich habe. Es geht nicht um das Wohlbefinden der Landeshauptleute, sondern um das Wohlbefinden der Patient:innen.
Wie kommt man aus dem Föderalismusproblem heraus? Es wird pro futuro eine gemeinsame Finanzierung brauchen. Die Trennung von stationärem und niedergelassenem Bereich hat keine Zukunft. Entweder wir schaffen es, diese Reform selbst zu gestalten, oder es passiert aus der Not heraus. Allerdings wird es dann wahllos Krankenhausschliessungen geben.
Solche Reformen sind aber schwer, wie zuletzt das Beispiel Steiermark zeigte, wo die Zusammenlegung von drei Spitälern wahlentscheidend war und die Regierung abgestraft worden ist. Man wird viel Zeit und Energie aufwenden müssen, den Menschen zu erklären, dass die Zusammenlegung von Spitälern eine Qualitätsfrage ist. Es braucht in Spitälern eine Mindestqualität. Sonst funktioniert die medizinische Versorgung nicht. 70 Prozent der Menschen, die in Spitalsambulanzen gehen, gehören nicht dorthin.
Warum ist das Spital eine heilige Kuh? Weil im niedergelassenen Bereich die Versorgung immer schlechter geworden ist. Das Krankenhaus wird als Anker wahrgenommen. Überall wo Primärversorgungseinheiten sind, werden sie als Segen angenommen. Man muss also zuerst den niedergelassenen Bereich stärken. Ich kann den Menschen nicht verbieten, nicht ins Spital zu gehen, wenn sie im Umkreis von 30 Kilometern keinen niedergelassenen Arzt haben. Es braucht auch Lenkung durch das Gesundheitswesen. Man muss die Menschen mit ihren Bedürfnissen und Nöten ernst nehmen. Dafür haben wir bereits einige Meilensteine gelegt. 1450 wird etwa einheitlich österreichweit ausgebaut und das Beispiel Wien zeigt, wie man es damit schafft, tatsächlich Leute von den Spitalsambulanzen wegzubringen. Ist es getan mit der Reform? Sicher nicht. Mein Nachfolger oder meine Nachfolgerin muss dranbleiben.
Aktuell wird aber darüber diskutiert, wo im System gespart werden kann. Wirtschaftsexpert:innen und unterschiedliche Lobbyist:innen fordern Kürzungen. Das halte ich für vollkommen fehl am Platz. Es kann bei Gesundheit nicht gespart werden. Was wir getan haben, ist eine Investition. Nicht nur Straßenbau und Wohnbau sind Investitionen. Auch Ausgaben für Gesundheit und Soziales sind Investitionen. Wenn wir diese Investitionen nicht tätigen, entstehen später hohe Folgekosten. Die HPV-Impfung wird etwa dazu führen, dass wir in zehn Jahren Gebärmutterhalskrebs endgültig beseitigt haben. Der volkswirtschaftliche Gewinn dadurch ist enorm. Das Programm „Gesund aus der Krise“ versorgt niederschwellig und schnell für psychisch bedürftige Jugendliche und führt bei mehr als der Hälfte der Betroffenen dazu, dass sie nicht mehr behandlungsbedürftig sind. Auch das erspart uns hohe Folgekosten bei Krankenständen und psychologischen Behandlungen.
Das kostet aber mehr Geld. Woher soll das kommen? Die wirtschaftliche Gesamtsituation wird sich verbessern, wenn die Konjunktur anzieht. Es ist aber auch ein Finanzierungspotenzial da. Da gäbe es etwa noch Potentiale in der Sozialversicherung zu heben. Solange das nicht passiert ist, tu ich mir schwer, über andere Formen der Zusatzfinanzierung zu reden. Eine Beitragserhöhung ist im Hinblick auf die Lohnnebenkosten nicht sinnvoll. Eine Erhöhung der Höchstbeitragsgrundlage ist zu überlegen. Das muss man sich aber im Hinblick auf die Pensionen ansehen, an die das gekoppelt ist. Die Frage, die sich alle stellen müssen, ist: Welche Einsparungspotentiale können wir im eigenen Wirkungsbereich heben? Es wäre in der Verwaltung einiges zu machen. Warum machen wir nicht einen einzigen Versicherungsträger – in der ÖGK gibt es immer noch alles mal 10? Wenn man sich die Lebenswelten der Menschen genau ansieht, kommt man letztlich zu einem Träger.
Das wird wohl realpolitisch nicht umsetzbar sein. Es gibt ein Argument, warum es gehen muss: Es wird auf Dauer so nicht funktionieren. Es wird vielleicht noch zwei bis vier Jahre so gehen, aber letztlich wird es den Ansatz einer gemeinsamen Finanzierung brauchen. Das Motto „digital vor ambulant vor stationär“ ist vielleicht populistisch verkürzt – aber es ist der Schlüssel. Wir sind immer noch verhaftet in der Reparaturmedizin. Lasst uns darauf schauen, was funktioniert! Die gute Nachricht: Wir haben im Vergleich mit vielen anderen Ländern noch ein gutes und qualitativ hochwertiges Gesundheitssystem. Wir können Reformen noch aus einer Situation heraus angehen, wo wir sie aktiv gestalten können. (Das Interview führte Martin Rümmele)