Eine Forschungsgruppe um den Physiker und Ökonomen Stefan Thurner ist Mitglied des Corona-Prognose-Konsortiums des Gesundheitsministeriums. Jetzt schildert Thurner wie er arbeitet.
An den zuletzt heftig diskutierten Modellen der Forscher orientieren sich die Maßnahmen der Bundesregierung zur Eindämmung der Corona-Pandemie in Österreich. Stefan Thurners Modellrechnungen nutzen dabei Methoden aus Grundlagenprojekten, die plötzlich unerwartete Brisanz bekamen. Als Thurner 2018 eine wissenschaftliche Arbeit über die Ausbreitung von Epidemien in sozialen Netzwerken publizierte, ahnte er nicht, dass er zwei Jahre später einen Anruf aus dem Gesundheitsministerium bekommen würde. Er wurde eingeladen, seine Expertise in ein Team von Wissenschaftlern einzubringen, das den Gesundheitsminister beraten sollte, um die Auswirkungen der schlimmsten Pandemie seit der Spanischen Grippe in Österreich unter Kontrolle zu bekommen.
Österreichs Wissenschaftler des Jahres 2017 ist eigentlich Grundlagenforscher und interessiert sich besonders für komplexe Systeme. Modelle dieser Art, die Epidemien in Netzwerken von Menschen untersuchen, waren zu dieser Zeit eher von akademischem Interesse, kaum mehr als ein Modellsystem, das aufgrund seiner Struktur interessant ist. Thurners Team wählte einen unüblichen Ansatz, indem es berücksichtigte, dass Menschen gegenüber Erkrankten ihr Sozialverhalten ändern. Das war bisher noch nicht gemacht worden. „Damit trafen wir, ohne es zu wissen, den Nagel auf den Kopf“, sagt Stefan Thurner. „Wir hatten ein Modell für eigenverantwortliches Social Distancing entwickelt.“
Für diese Arbeit, die in einem Fachjournal für Physik veröffentlicht wurde, nutzte der Forscher die sogenannten SIS-Gleichungen. Das Kürzel steht für Susceptible-Infected, was sinngemäß für infizierbare und infizierte Personen steht. „Wir haben das nicht so gelöst wie alle anderen, sondern angenommen, dass sich neben den Infektionszahlen auch das soziale Netzwerk ändert. Beispielsweise trifft jemand seine Freunde nicht, wenn er weiß, dass sie angesteckt sind.“ Genau solche Mechanismen sind aktuell tatsächlich relevant. Durch die Veränderlichkeit des sozialen Netzwerks wird die Situation komplex, und genau solche Situationen interessieren den Wissenschaftler Thurner. Systeme wie dieses sind stark „nichtlinear“, wie es in der Mathematik heißt, und neigen zu chaotischem Verhalten – eine Eigenschaft, die sie mit meteorologischen Modellen oder Simulationen des Finanzmarktes teilen. Kleine Änderungen in den Parametern können große Auswirkungen haben, ähnlich dem sprichwörtlichen Schmetterlingsflügel, der einen Orkan auslösen kann.
Thurner spricht konkret von „Co-Evolvierenden“ Systemen: Die Zahl der Infizierten ändert das soziale Netzwerk, das soziale Netzwerk ändert wiederum die Zahl der Infizierten. Solche Situationen seien in der Grundlagenforschung derzeit beliebt, weil sie sehr schwierig zu berechnen sind und es noch wenige Arbeiten dazu gibt, erklärt Thurner. „Uns interessierte eigentlich, ob es ein Frühwarnsystem geben kann, das vorhersagt, wann das soziale Netzwerk auseinanderbricht.“ Tatsächlich gelang es ihm und seinem Team, Parameter zu identifizieren, die vor dem Zusammenbruch warnen können. „Wir haben damals nicht an Coronaviren gedacht, sondern hatten eher Ebola im Hinterkopf“, so Thurner.
Das vom Wissenschaftsfonds FWF finanzierte Grundlagenprojekt, aus dem diese Arbeit stammt, lieferte noch ein weiteres Ergebnis mit aktueller Relevanz, das kürzlich in der Fachzeitschrift Nature Scientific Reports publiziert wurde. In der Fachzeitschrift Nature wurde die Arbeit von Thurners Team des Complexity Science Hub Vienna, dessen Leiter Thurner ist, als internationales Erfolgsbeispiel in der Behandlung der Corona-Pandemie beschrieben. Thurner und Kollegen beschäftigten sich mit Wirtschaftskreisläufen, etwa in der Lebensmittelversorgung. Eine Störung der Versorgung ist während der aktuellen Krise zu einem ernst zu nehmenden Szenario geworden. Thurner weist etwa auf den Zusammenbruch der Fleischversorgung in den USA hin, wo auf einmal ein Viertel des Fleisches fehlt. Oft ließen sich Schwächen in Versorgungssystemen, die schließlich zum Ausfall führen, erst identifizieren, wenn es zu spät sei. Auch hier sind Frühwarnsysteme nötig, doch bisher muss dafür das Netzwerk gut bekannt sein. (red)