Das Suizidrisiko für Ärztinnen ist immer noch überdurchschnittlich hoch, zeigt eine Studie der MedUni Wien. Bekannte Medizinerinnen fordern Gegenmaßnahmen.
Eine aktuell im British Medical Journal veröffentlichte Metaanalyse der MedUni Wien zeigt, dass die Suizidrate von Ärztinnen weit über jener der Allgemeinbevölkerung liegt. Genauer gesagt zeigen Daten aus 20 Ländern und 39 Studien, dass das Suizidrisiko für Ärztinnen ganze 76 Prozent über jenem der Allgemeinbevölkerung liegt, während jenes der Ärzte nicht erhöht war. Für Naghme Kamaleyan-Schmied, Vizepräsidentin und Obfrau der Kurie des niedergelassenen Bereichs der Ärztekammer für Wien, sind die Studienergebnisse erschreckend. „Die Zahlen zeigen, unter welchem massiven Druck unsere Kolleginnen und Kollegen stehen“, sagt sie im RELATUS-Interview.
„Die Arbeitsbedingungen sind aufgrund der jahrzehntelangen Unterfinanzierung des Gesundheitssystems unzumutbar geworden: Massiver Zeitdruck, der Zwang zu Fließbandmedizin sowie eine Verschlechterung der Rahmenbedingungen durch Personalmangel, fehlende Medikamente und enormen Bürokratieaufwand. Dies alles kann zu Frustration, Erschöpfung, Depression und im schlimmsten Fall zu Suizid führen.“ Ärzt:innen würden sich für ihren Beruf entscheiden, um Menschen zu helfen. Das können sie laut Kamaleyan-Schmied aber aufgrund der erschwerten Bedingungen immer weniger. „Die Mängel im System gleichen Ärztinnen und Ärzte durch Eigenengagement aus und arbeiten bis zur völligen Selbstaufopferung. Ein krankes System macht krankt“, betonte die Wiener Vizepräsidentin.
Eine aktuelle Umfrage von RELATUS MED zeigt ein ähnliches Stimmungsbild: Eine schockierend hohe Anzahl an Ärzt:innen in Österreich steht unter hoher Belastung und kämpft mit unterschiedlichen Erschöpfungssymptomen – die Details finden Sie hier. „Wir appellieren an alle Kolleginnen und Kollegen, die unter psychischen Belastungen leiden, sich Unterstützung zu holen. Rasch und unbürokratische Hilfe erhalten Ärztinnen und Ärzte über die Beratungsstelle Physicians Help Physicians des Referats für psychosoziale, psychosomatische und psychotherapeutische Medizin der Ärztekammer für Wien“, fügte Kamaleyan-Schmied hinzu.
Auch das Forschungsteam der Studie um Studienleiterin Eva Schernhammer, Leiterin der Abteilung für Epidemiologie, und ihrer Kollegin und Erstautorin Claudia Zimmermann fordert weitere Anstrengungen bei der Erforschung und Verhütung des ärztlichen Suizides, insbesondere bei Ärztinnen, und weisen darauf hin, dass künftige Forschungsarbeiten erforderlich sind, um etwaige Auswirkungen von Covid-19 auf die Suizidrate bei Ärzt:innen in aller Welt zu bewerten. Eine gute Nachricht gibt es allerdings: Die Wissenschaftler:innen untersuchten zwei Beobachtungszeiträume (1935-2020 und 1960-2020) – die Analyse der zehn neuesten Studien im Vergleich zu älteren Studien ergab, dass die Suizidrate sowohl bei männlichen als auch bei weiblichen Ärzt:innen im Laufe der Zeit zurückgegangen ist, obwohl die Rate bei Medizinerinnen im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung weiterhin signifikant erhöht war (24 Prozent höher). Die genauen Ursachen für diesen Rückgang sind nicht bekannt, aber eine stärkere Sensibilisierung für psychische Gesundheit und die Unterstützung von Ärzt:innen am Arbeitsplatz in den vergangenen Jahren könnten eine Rolle gespielt haben, vermuten die Autor:innen.
Aufgrund verschiedener Ausbildungen und Arbeitsumfelder in den untersuchten Gesundheitssystemen sowie wegen unterschiedlicher Einstellungen und Stigmatisierungen in Bezug auf psychische Gesundheit und Suizid variiert die Suizidrate von Land zu Land stark, fügten die Forscher:innen hinzu. Eine zusätzliche Analyse ergab zudem eine signifikant (81 Prozent) höhere Suizidrate bei Ärzten im Vergleich zu anderen Berufsgruppen mit ähnlichem sozioökonomischen Status. Bei Ärztinnen sah das Verhältnis ähnlich aus, aber die Zahl der in Frage kommenden Studien war zu gering für eine separate Analyse. Die Autor:innen räumen mehrere Einschränkungen ein, wie den Mangel an Studien aus Ländern außerhalb Europas, der USA und Australiens und die wahrscheinlich zu geringe Zahl der Suizidfälle als Todesursache aufgrund von Stigmatisierung. Nichtsdestotrotz basierte die Analyse auf einer vollständigen Bewertung der verfügbaren Daten und untersuchte eine Reihe von Faktoren als mögliche Ursachen für die Unterschiede. (kagr)
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