„Ich spüre eine Aufbruchstimmung“

© Stefan Seelig-Ärztekammer

Naghme Kamaleyan-Schmied ist Allgemeinmedizinerin und hat sich zur Vizepräsidentin der Ärztekammer für Wien durchgekämpft. Sie will der Standesvertretung einen weiblichen Stempel aufdrücken.

Warum haben Sie gerade diesen Beruf gewählt? Weil ich die Medizin faszinierend finde und die Arbeit mit Menschen sehr schätze.

Wo liegen aus Ihrer Sicht aktuell die größten Probleme im Kassensystem? Wir sind zu wenige im Kassensystem – es gibt also nicht zu wenige Ärztinnen und Ärzte, sondern zu wenige mit einem Kassenvertrag. Das solidarische Gesundheitssystem in unserer Hauptstadt Wien und in Österreich ist damit massiv gefährdet. Wenn es immer weniger Vertragsärztinnen und -ärzte gibt, bedeutet das, dass eine wachsende, überalternde und damit betreuungsintensivere Bevölkerung auf immer weniger Ärztinnen und Ärzte im öffentlichen System zugreifen kann. Die Terminvergabe wird immer schwieriger, es kommt zu langen Wartezeiten und in letzter Konsequenz auch zu Aufnahmestopps. Dadurch sind immer mehr Menschen dazu gezwungen, auf den wahlärztlichen Bereich auszuweichen. Der Mangel an aktiven Kassenärztinnen und -ärzten und die Schwierigkeiten bei der Nachbesetzung sind eine große Bedrohung für die Gesundheitsversorgung in Österreich.

Inwiefern sind Frauen von diesen Entwicklungen besonders betroffen? Das Kassensystem ist seit Jahren unterfinanziert und unflexibel. Leider wurde auch übersehen, das Gesundheitssystem an den gesellschaftlichen Wandel anzupassen. Die noch immer fehlende Flexibilität bei den Arbeitsmodellen hindert Ärztinnen und Mitarbeiterinnen in den Ordinationen, ins Kassensystem einzutreten. Wir sind in einem Versorgungsnotstand und gleichzeitig können junge Frauen mit Kindern keine Kassenordination eröffnen, wenn sie beispielsweise ausschließlich am Vormittag arbeiten wollen. Das darf es im Jahr 2024 nicht mehr geben.

Im Gesundheitswesen fehlt es an allen Ecken und Enden an Personal – woran liegt das und wie ließe sich das generell und speziell in Ihrem Bereich ändern? Ein großes Problem ist die fehlende Attraktivität des Arztberufes. Früher wollte jeder einen Kassenvertrag, weil es eben noch attraktiv war. Das ist leider vorbei. Wir fordern eine Attraktivierung und bessere Finanzierung des Kassenbereichs. Es braucht endlich eine Flexibilisierung, die moderne Arbeitsmodelle, Telemedizin und interdisziplinäre Praxen fördert. Auch faire Honorare und eine Entbürokratisierung der täglichen Arbeit sind längst überfällig.

Gibt es in den jüngsten Gesundheitsreformen einen Gender-Gap – und wenn ja, wo und mit welchen Konsequenzen? Das Ungleichgewicht in der medizinischen Behandlung von Frauen gegenüber Männern ist noch immer Realität. Das Thema wird leider immer noch viel zu wenig mitgedacht.

Welchen Stellenwert nehmen Genderfragen auf Ebene der Funktionärinnen in der Ärztekammer für Wien ein? Das Referat für Frauenpolitik der Ärztekammer für Wien hat sich im Auftrag der Kammer zum Ziel gesetzt, den Frauenanteil in allen Führungsebenen und Gremien auszubauen. Das Coachingprogramm „Ärztinnen@Kammer“ soll Ärztinnen dabei unterstützen, sich für verantwortungsvolle Führungsaufgaben innerhalb der Ärztekammer zu qualifizieren und sich 2027 für die nächste Kammerwahl zu bewerben, um langfristig einen repräsentativen Frauenanteil in der Standesvertretung aufzubauen. Darüber hinaus gab es einen Vollversammlungsbeschluss zur Selbstverpflichtung aller Wahllisten, bei der nächsten Wahl zumindest 40 Prozent Ärztinnen aufzustellen, und das möglichst nach dem sogenannten Reißverschlussprinzip.

Wann ist eigentlich im ärztlichen Bereich Equal-Pay-Day? Der Anteil der Ärztinnen im Gesundheitssystem steigt kontinuierlich, doch nach wie vor haben diese trotz ihrer hohen Qualifikation schlechtere Karrierechancen als ihre männlichen Kollegen. Ich sehe hier großen Handlungsbedarf, und wir machen als Ärztekammer für Wien darauf lautstark aufmerksam.

Haben Sie sich persönlich schon einmal in einer beruflichen Situation wiedergefunden, wo sie sich genderbedingt besonders durchsetzen mussten oder gar Nachteile erfahren haben? Ja. Leider schon mehrfach.

Wie nehmen Sie den Zusammenhalt und die Zusammenarbeit zwischen Frauen in Ihrem Umfeld wahr? Ich spüre eine Aufbruchstimmung unter den Kolleginnen und ein Bewusstsein dafür, dass es eine gemeinsame Kraftanstrengung braucht, um die Rahmenbedingungen für uns Ärztinnen und Ärzte zu verbessern. Dafür werden wir auch in der Zukunft mit vollem Einsatz eintreten. (Das Interview führte Evelyn Holley-Spiess)

Der Text ist ein Auszug aus dem Buch „Jetzt reden wir! Wie Frauen das Gesundheitssystem neu denken“, erschienen im Ampuls-Verlag; ISBN: 978-3-9505385-3-3; 180 Seiten, 29,90 Euro