Während die Corona-Maßnahmen derzeit Schritt für Schritt gelockert werden, wächst unter Experten die Sorge vor einer neuen Welle im Herbst, weil gleich mehrere Faktoren zusammenkommen könnten.
Während Österreich einer politisch unterstützen Öffnungseuphorie frönt, beginnen schon die Vorbereitungen auf einen möglicherweise schwierigen Corona-Herbst. Eine Modellrechnung Wiens, die zuletzt auch in der Ampel-Kommission angesprochen worden ist, geht davon aus, dass schon bei geringer Anzahl an Fällen der indischen Variante – laut WHO künftig „Delta“ genannt – im Frühsommer und nicht ausreichender Durchimpfung eine weitere Pandemiewelle im Herbst zu erwarten sei. Es sei in diesem Fall mit einer deutlichen Belastung der Intensivstationen zu rechnen. Zu bedenken gibt man, dass „Delta“ sich schneller verbreiten dürfte. Zudem legen internationale Studien nahe, dass die Impfstoffe etwa 20 Prozent an Wirksamkeit bei dieser Variante einbüßen, die in Europa vor allem in Großbritannien Fuß zu fassen beginnt.
Ein anderes Problem ist die Zuverlässigkeit der registrierten Selbsttests. Aus Salzburg wird berichtet, dass die bisher beobachtete Positivitätsrate der registrierten Selbsttests bei nur einem Zehntel jener von Testungen in Teststraßen liegt. Ähnlich der Bericht aus Wien: Die Positivitätsrate lag mit 0,01 Prozent bei nur einem Fünftel der sonst in Wien beobachteten Quote. Zwei mögliche Gründe für diese Ergebnisse werden angenommen: Sowohl eine etwaige schlechte Abnahmequalität als auch das mögliche Verwerfen positiver Tests durch die Testenden, etwa um eine Quarantäne zu vermeiden.
Auch der deutsche Gesundheitsexperte und SPD-Politiker Karl Lauterbach warnt vor einer neuen Infektionswelle durch Reiserückkehrer oder Mutationen. „Delta“ werde sich wahrscheinlich in den kommenden Monaten in zahlreichen europäischen Ländern ausbreiten, sagte Lauterbach am Donnerstag in Zeitungsinterviews. „Durch Reiserückkehrer wird sich die Mutante spätestens im Herbst auch in Deutschland großflächig ausbreiten“, meinte Lauterbach. Das Ausmaß sei noch unklar, man müsse aber davon ausgehen, dass am Ende dieses Sommers deswegen eine neue Infektionswelle in Europa drohen könnte. Es könne auch sein, dass sich im Herbst eine neue Virus-Mutation verbreite, „die wir bisher noch nicht kennen“, sagte der SPD-Politiker.
Man könne nicht so tun, „als wäre die Epidemie jetzt vorbei“, warnt deshalb der Wiener Gesundheitsstadtrat Peter Hacker (SPÖ). Hacker verwies auf die Wiener Modellrechnung. Demnach könne es im Oktober oder November „noch einmal einen dramatischen Anstieg geben“, interpretierte er die Daten. „Wir feiern uns schon wieder einmal viel zu früh ab, so als wäre es schon erledigt, aber wir sind weit entfernt von erledigt“, warnte der Stadtrat.
Warnungen kommen auch vom Komplexitätsforscher Stefan Thurner: Bevor das Thema in den Köpfen in die Sommerpause geht, müsse man sich noch genau überlegen, wie die Eindämmungsstrategie im Herbst aussieht, betonte er im APA-Gespräch. Bei einer Durchimpfungsrate von rund 50 Prozent könne es in Verbindung mit der Variante „Delta“ immer noch zu Problemen kommen. Man könne davon ausgehen, dass die hierzulande seit längerem dominante „britische Variante“ (B.1.1.7 oder nach neuer WHO-Namensgebung „Alpha“) um etwa 50 Prozent ansteckender ist als der „Wildtyp“. Wenn man nun annimmt, dass sich „Delta“ nochmals um rund 50 Prozent leichter überträgt und sich in den kommenden Monaten von Großbritannien ausgehend in Kontinentaleuropa ausbreitet, dann könnte es hierzulande im Herbst weiter zu stattlichen Ausbrüchen kommen.
Aktuell gebe es keinen Grund, in irgendeine Art von Panik zu verfallen, das SARS-CoV-2-Virus „ist aber auch nicht weg“, betonte der Leiter des Complexity Science Hub Vienna (CSH), der auch Teil des Covid-Prognose-Konsortiums ist. Schlafe aber über den Sommer der Fortschritt beim Impfen ein und werden wie im vergangenen Sommer wichtige strategische Entscheidungen nicht in Angriff genommen und Infrastrukturen vernachlässigt, könne man sich auf die ersehnte Herdenimmunität vielleicht auch nicht verlassen. Es dürfe nicht sein, „dass es die Institutionen so wie letztes Jahr total verschlafen, sich vorzubereiten“, betonte Thurner. (red/APA)