Zugegeben: Die Corona-Debatten nerven wirklich schon. Wir alle wünschen uns einen ruhigen Sommer ohne Infektionen. Genau deshalb sollte die Politik allerdings die Delta-Variante ernst nehmen. Doch das tut sie nicht.
Die warnenden Stimmen werden immer lauter und die Beispiele in anderen Ländern sind nicht zu übersehen: England verschiebt Öffnungsschritte, Moskau meldet neue Höchstzahlen bei Infektionen und Portugal schottet Lissabon ab. In einigen Ländern ist die laut Experten gefährlichere Delta-Mutante schon die dominierende Corona-Virus-Variante. „Es ist nicht die Frage, ob Delta die führende Variante wird, sondern wann“, sagt Präsident des Robert-Koch-Instituts, Lothar Wieler. Spätestens im Herbst werde sie die Oberhand haben. Spätestens.
„Jetzt kommen wieder die Schwarzmaler“, werden viele denken. 41% der Österreicher ärgern sich darüber, dass Corona den Urlaub vermasselt hat. Das ist ein internationaler Spitzenwert, zeigt eine europaweite Umfrage des Pharmaunternehmens Stada. Nur 16% – diesmal ein negativer Spitzenwert – gaben an, nach dem Ende der Corona-Pandemie an belebten Orten, wie in öffentlichen Verkehrsmitteln weiterhin freiwillig Masken zu tragen. Der Großteil hat die Pandemie satt. Der Bundeskanzler weiß das auch und formuliert das so: „Die Maske sollte kein Dauerzustand werden“, die Delta-Variante müsse genau beobachtet werden, sei aber „überhaupt kein Grund zur Panik“, sagt er am Sonntag in Interviews. Die Pandemie finde in Wellen mit saisonalen Höhepunkten statt, die steigenden Zahlen im Herbst hätten nichts mit dem Sozialverhalten der Menschen im Juli zu tun, erklärt der Experte im Bundekanzleramt.
Interessant in diesem Zusammenhang ein Nebensatz: Mit Ende des Sommers werde vermutlich zwei Drittel der Bevölkerung geimpft sein, dadurch sei Österreich „sehr gut vorbereitet für die nächste Welle“. War da nicht einmal das Versprechen, dass bis zum Sommer alle, die das wollen geimpft sein werden? Tatsächlich haben die Vollimmunisierung durch den Zweitstich gerade einmal 31,5 % der impfbaren Bevölkerung. Experten warnen allerdings, dass erst die zweite Impfung wirklichen Schutz vor Delta bringt.
Auch die Landeshauptleute nehmen die Entwicklung locker – sie fahren die PCR-Tests hinunter, frei nach dem Motto: „Wenn wir nicht testen gibt es keine Fälle und damit haben wir im Sommer Ruhe.“ Das System wurde bereits im vergangenen Sommer angewendet, mit dem Nachteil, dass Anfang September die nächste Welle kam. Doch die kommt laut Kanzler sowieso – egal, ob man nun testet oder nicht. Mutationsvarianten des Coronavirus wie die Delta-Variante können nur mittels PCR-Test entdeckt werden. Allerdings kommen diese in Österreich nur in Wien großflächig zum Einsatz. Von 77.464 am Donnerstag österreichweit durchgeführten PCR-Tests stammten gleich 69.505 aus der Bundeshauptstadt. Die Bundesländer, die im Vorjahr glorreich beim Contact-Tracing versagt haben, brillieren jetzt bei den Tests. Es wird Zeit, dass der Gesundheitsminister hier den Ländern auf die Finger klopft. Die rechtlichen Möglichkeiten dazu hat er, und angekündigt hat er bei seinem Antritt auch.
Ja, das Coronavirus Sars-CoV-2 wird bleiben, selbst wenn einmal der Großteil der Weltbevölkerung geimpft sein sollte – davon geht inzwischen die Mehrheit der Experten aus. Die viel erwähnte Herdenimmunität ändert daran nichts. Sie bedeutet, dass große Infektionswellen unwahrscheinlich werden, nicht aber, dass das Virus verschwindet. Unwahrscheinlich wird ein Verschwinden auch durch das Auftreten immer neuer Varianten. Genau deshalb wird es wichtig sein, die Verbreitung bekannter und neu auftauchender Mutanten dauerhaft zu überwachen – zum einen, um Impfstoffe anpassen zu können, und zum anderen, um beginnende größere Ausbreitungswellen früh zu bemerken. (rüm)