Nimmt die Politik die Sorgen der Ärzteschaft noch ernst?
Zuletzt wurde viel über die Rolle der Ärztekammern bei Reformen diskutiert. Ein Kritiker ist ÖGK-Arbeitnehmer:innen-Obmann Andreas Huss. Die Newsplattform RELATUS hat mit ihm gesprochen.
Sie werfen der Ärztekammer Verhinderung von Reformen vor. Können Sie das konkretisieren? Die Ärztekammer verhindert etwa den Ausbau der kindermedizinischen Ambulatorien in Wien, obwohl es Errichtungsbewilligungen gibt, und wehrt sich gegen alternative Versorgungsformen wie Ambulatorien oder Kooperationen mit Krankenhäusern, auch wenn dortige Kassenstellen längere Zeit nicht besetzt werden können. Auf österreichischer Ebene wurde lange Zeit der Ausbau der Primärversorgungseinheiten verzögert, sodass es in manchen Bundesländern wie Tirol und Vorarlberg noch immer keine einzige gibt. Die Möglichkeit der Impfung in Apotheken wird von der Ärztekammer durch intensive Lobbyarbeit bekämpft. Die notwendige Arbeitsverteilung auf andere hochqualifizierte Gesundheitsberufe wird mit Berufung auf den Ärztevorbehalt verhindert.
Die Kritik an der Kammer frustriert viele niedergelassene Ärzt:innen. Ist das nicht kontraproduktiv, wenn viele Kassenstellen unbesetzt sind? Mir ist hier wichtig, zwischen Ärzt:innen und Ärztekammerpositionen zu unterscheiden. Ich bekomme gerade zur Diskussion über das Wahlarztsystem unglaublich viele zustimmende Reaktionen von Kassenärzten. Klarstellen möchte ich auch, dass der niedergelassene Bereich den absoluten Großteil der Behandlungsleistungen in unserem Gesundheitssystem erbringt und dafür danke ich allen unseren Vertragspartner:innen, die hier sehr versorgungswirksam sind. Von den insgesamt 105 Millionen Frequenzen im ambulanten Bereich 2021 haben sie mehr als 80 % erledigt. Wir konnten im Jahr 2022 sehr viele neue Kassenärzt:innen unter Vertrag nehmen. Insgesamt sind im Vorjahr 630 ärztliche und zahnärztliche Kassenstellen (von insgesamt rund 9.500 Stellen) mit neuen motivierten Vertragspartner:nnen besetzt worden. Diese Vertragsärzt:innen der ÖGK leisten gemeinsam rund 87,9 Millionen Konsultationen pro Jahr, bei steigender Tendenz. Ich lege auch Wert darauf, dass wir seit vielen Jahren etwa mit den Ärztekammern in Kärnten, Vorarlberg und Salzburg hervorragend zusammenarbeiten und von diesen Kammern auch Versorgungsverantwortung übernommen wird. Zuletzt konnten in mittlerweile fünf Bundesländern mit den regionalen Ärztekammern gute Honorarabschlüsse erreicht werden, die die Attraktivität der kassenärztlichen Versorgung weiter verbessern. Vorrangiges Ziel muss es aber sein, nun endlich zu einem österreichweit einheitlichen Gesamtvertrag und einem einheitlichen Leistungskatalog für die ärztliche Versorgung zu kommen.
Warum kann sich die ÖGK nicht überall mit ihren Plänen durchsetzen? Die ÖGK hat keine Möglichkeit, eine Kassen-Planstelle, selbst wenn sie im Stellenplan vorgesehen ist, ohne Zustimmung der Ärztekammer auszuschreiben. Auch bei den Primärversorgungszentren kann ohne Zustimmung der Ärztekammer nicht ausgeschrieben werden. Dieses Vetorecht wird durch die Ärztekammer regelmäßig genutzt. Die Ärztekammer missbraucht hier ihre Vetorechte, um eine Angebots- und Nachfrage-Schieflage zu erzeugen und diese zu ihrem Vorteil zu nutzen. Hohe Nachfrage und niedriges Angebot führt zu höheren Honoraren, so die Strategie. Das erschwert es uns, die gute Versorgung für alle aufrecht zu erhalten. Die Länderärztekammern beharren zudem auf den regionalen Gesamtverträgen inklusive regionaler Honorarordnungen, obwohl es einen gesetzlichen Auftrag für einen österreichweiten Vertrag gibt. Für die Versicherten und auch für die Vertragsärzt:innen – Stichwort „gleiche Tarife für gleiche Leistungen“ – wäre aber ein bundesweit einheitlicher Gesamtvertrag extrem wichtig.
Woran spießt es sich konkret? Bei den regionalen Honorarverhandlungen scheitern Versorgungsverbesserungen wie Ausweitung der Öffnungszeiten, Sicherstellung von ärztlichen Anwesenheiten zu Urlaubszeiten und an Zwickeltagen, telefonische Erreichbarkeit, Terminvergabesysteme in Ordinationen und so weiter regelmäßig am Widerstand der Ärztekammern. Die gemeinsamen Vereinbarungen zu Arbeitsbedingungen und Honorierung werden wider besseres Wissen als unflexibel, unzureichend und unattraktiv dargestellt. Die Ärzteeinkommen liegen jedoch laut IHS und Rechnungshof im absoluten Spitzenfeld aller akademischen Berufe und der Vertrag bietet mittlerweile jede flexible Möglichkeit einer Kassentätigkeit von (Teilzeit)Anstellung, viele Gruppenpraxismodelle bis Jobsharing.
Das sind harte Vorwürfe. Gibt es weitere Kritikpunkte? Die Wiener Ärztekammer bekämpft die Gründung von selbständigen Ambulatorien auch bei bestehender Bedarfslage. Konkretes Beispiel: Die Ärztekammer moniert, dass erhöhter Bedarf in der Pathologie besteht. Wir haben konkret ein Vertragsansuchen eines pathologischen Instituts am Tisch. Die Ärztekammer lehnt die Umsetzung aber ab. Trotz vieler offener Kassenstellen in der Wiener Kinderheilkunde wehrt sich die Ärztekammer gegen den Betrieb weiterer kindermedizinischer Ambulatorien, obwohl Errichtungsbewilligungen vorliegen.
Was wünschen Sie sich konkret von der Ärztekammer? Natürlich kann sich die Ärztekammer ausschließlich auf die Vertretung der Interessen der Ärzt:innen zurückziehen und jegliche Versorgungsverantwortung von sich weisen. Dann aber bitte ohne irgendwelche Vetorechte. Die Ärztekammer sollte nicht nur Probleme aufzeigen, sondern gemeinsam mit der Sozialversicherung Lösungen entwickeln und umsetzen. Die ÖGK steht jedenfalls für alle lösungsorientierten Gespräche auf Basis gemeinsam definierter Problemstellungen, die es zweifellos gibt, gerne zur Verfügung.
Wie wollen Sie aber künftig neue Kassenärzt:innen gewinnen? Eine große Herausforderung ist der Ärztenachwuchs. Hier brauchen wir nicht nur mehr Ärzt:innen, sondern „die Richtigen“, die nach dem Studium in der öffentlichen Versorgung zur Verfügung stehen wollen. Unser kürzlich beschlossenes Stipendienmodell und die Unterstützung bei Praxiseröffnungen sind Puzzlestücke für mehr Kassenärzt:innen. Wir brauchen mehr Ärzt:innen, die gerne Teil unseres solidarischen Gesundheitssystems sein wollen und gerne für alle Menschen gleichermaßen da sein wollen. Solidarität braucht nicht nur solidarische Zahler sondern auch solidarische Leistungserbringer:innen. (Das Interview führte Martin Rümmele)