Die Wissenschaft kommt nicht nur in den USA unter Druck. Mit dem Schlagwort der Meinungsfreiheit wird gegen alles zu Felde gezogen, was einem nicht passt. Auch gegen Fakten. Warum wir uns dagegenstemmen müssen.
Eine für Donnerstag in einem Gasthaus in Niederösterreich geplante ORF-Diskussion zur Coronapandemie, an der auch der Maßnahmengegner und Corona-Leugner Martin Rutter teilgenommen hätte, findet nun doch nicht statt. Ausschlaggebend für die Absage war, dass Virologe Norbert Nowotny und Intensivmediziner Christoph Hörmann als Teilnehmer kurzfristig abgesagt haben. Die Diskussion sollte klären, welche Fakten rückblickend für die damaligen Corona-Einschränkungen sprechen und inwieweit im Zuge der Pandemie auch Fehler passiert seien. Der Anspruch des ORF NÖ sei gewesen, „eine Plattform für alle zu bieten“. Die eingeladenen Wissenschafter und auf der anderen Seite Betroffene, Interessierte und auch Aktivisten. Ein klassischer Fall von False Balance. Im Wissenschaftsjournalismus wird damit eine gleichwertige Darstellung zweier unterschiedlicher Positionen bezeichnet, obwohl die wissenschaftliche Beleglage klar für eine Seite spricht. Man vermittelt so irrtümlich den Leser:innen, dass beide Seiten etwa gleich Recht haben, selbst wenn eine Seite einen völlig Blödsinn behauptet. Es ist den beiden Medizinern hoch anzurechnen, dass sie sich für diesen Vergleich nicht hergeben.
Denn das Problem geht viel tiefer und erfordert Courage von uns allen. Wir sehen gerade ausgehend von den USA eine zunehmende Wissenschaftsfeindlichkeit und allzu oft wird sie mit dem Totschlagsargument der Meinungsfreiheit geschmückt. Bei Wissenschaft geht es aber um Fakten und nicht um Meinung. Doch gerade Social Media-Riesen trommeln das Thema Meinungsfreiheit. Warum? Weil es ihr Geschäftsmodell ist. Sie leben von der Polarisierung und letztlich von der Hetze. Ihre Algorithmen sind darauf ausgerichtet. Ohne Beschimpfungen, Vorverurteilungen, ohne Abwertungen keine Reichweite. Es geht ihnen nicht um echte Meinungsfreiheit. Meinungen posten zu können ist für sie Mittel zum Zweck. Und wenn das dazu führt, dass sich Menschen darüber radikalisieren und gewalttätig werden, stehlen sich die Social Media-Riesen aus der Verantwortung und verstecken sich hinter der Eigenverantwortung der Menschen.
Die wiederum ziehen auch gegen Medien zu Felde. Vor allem dann, wenn diese tun, was ihre Aufgabe ist: ohne Rücksicht auf Mächtige Fakten zu suchen und publik zu machen. Das hat den Mächtigen nie gepasst. Jetzt haben sie einen Kanal, das zu unterbinden: Social Medien, die ihnen Reichweite versprechen. Und dort hetzen sie gegen Medien und damit die Kontrolle. Trumps Team lässt die renommierte Agentur Associated Press nicht mehr ins Oval Office. Sogar der präsidentenfreundliche Sender Fox News unterschrieb eine Protestnote. Die White House Correspondents’ Association (WHCA), ein Zusammenschluss von Korrespondent:innen am US-Regierungssitz, wird in ihrer Autonomie eingeschränkt. Ende Februar verkündete Trumps Sprecherin, dass das Weiße Haus nun selbst die Kontrolle über den Pool übernehme. „Die WHCA hat lange Zeit diktiert, welche Journalisten dem Präsidenten der Vereinigten Staaten in höchst privaten Situationen Fragen stellen können“, sagte sie. „Jetzt nicht mehr.“ Dadurch werde „Macht an das amerikanische Volk zurückgegeben“. Das ist natürlich falsch – sie geht nicht an das Volk zurück – sie geht an die Regierung. Message Control.
Pressefreiheit, die gerne mit Meinungsfreiheit verwechselt wird, bedeutet nicht, dass die Medien tun uns lassen können, was sie wollen. Sie unterliegen strengen gesetzlichen Auflagen und haben sich an Fakten zu halten. Tun sie das nicht, sind sie klagbar. In Österreich und im Gesundheitswesen im speziellen regeln gleich mehrere Gesetze die Arbeit von Medien: das Journalistengesetz, das Mediengesetz und unter anderem auch das Arzneimittelgesetz, das Ärztegesetz und das Apothekengesetz. Dazu kommt das ABGB, das das Recht auf Anonymität, auf Privatsphäre und das eigene Bild regelt. Umgekehrt bedeutet Pressefreiheit, dass das Sammeln und Verbreiten von Nachrichten nicht behindert werden darf und die Einflussnahme Außenstehender unzulässig ist. Wirtschaftliche Interessen des Verlages dürfen Inhalte nicht beeinflussen. All das soll eine unabhängige Berichterstattung garantieren.
Die Basis dafür fußt, wie auch die moderne Wissenschaft in der Aufklärung: „Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt“, hat der Philosoph Immanuel Kant (1724-1804) gesagt. Aufklärerische Impulse beeinflussten die Amerikanische Revolution von 1776 und die Französische Revolution von 1789 und letztlich die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Was jetzt unter dem Titel der Meinungsfreiheit passiert, katapultiert uns 300 Jahre hinter die Aufklärung zurück. Und damit eigentlich fast wieder ins Mittelalter. (rüm)