Gesundheitsminister Johannes Rauch (Grüne) nimmt im Relatus-Interview Stellung zur Debatte über Kassenstellen, Wahlärzt:innen und die Finanzen der Krankenversicherungen.
Sie sind im März ins kalte Wasser gesprungen und haben den schwierigen Job des Sozial- und Gesundheitsministers übernommen. Wie sieht die bisherige Einschätzung aus, und was sind die generellen Pläne? Mein Befund nach den ersten Wochen: Es müssen sich alle aus ihren eingegrabenen Positionen herausbewegen und in ein Verhandlungssetting kommen. Ich halte es nicht aus, wenn alle nur entlang der Fragen diskutieren: „Sind wir dafür zuständig?“ und „Müssen wir es zahlen?“. Das betrifft auch die Bundesländer. Dort versuche ich auch eine Einheitlichkeit in der Einschätzung hinzubekommen. Alle tun so, als kenne das österreichische Gesundheitswesen nur zwei Aggregatzustände – gesund und krank.
Was denken Sie? Prävention wird etwa ausgeblendet. Wenn wir auch hier wirklich etwas bewegen wollen, müssen wir gemeinsam einen Topf dotieren, um Modellversuche zu organisieren. Aber nicht mit fünf Millionen Euro. Wir müssen da viel größer denken.
Bleibt die generelle Frage im Gesundheitsbereich, woher das Geld kommen soll. Die Kassen erwarten bis 2026 ein kumuliertes Minus von 1,5 Milliarden Euro. Jede Gruppe will mehr Geld, gleichzeitig hat man den Eindruck, dass die Kassenfusion nicht fruchtet. Ich bin permanent auf der Suche nach der versprochenen Patientenmilliarde, die die Kassenzusammenlegung durch Einsparungen hätte bringen sollen. Ich habe sie bis jetzt nicht gefunden. Das Kassenminus wiederum macht mich nur mittelnervös – ich gehe davon aus, dass die Prognose nach dem Vorsichtsprinzip erstellt wurde. Wir beobachten das aber genau. Bewahrheitet sich das, muss man gegensteuern. Dass die Kosten im Gesamtsystem steigen – um das zu sehen, muss ich kein Volkswirt sein. Wir haben aber gerade jetzt viele unbekannte Faktoren. Ich werde mir auch ansehen, in welchen Töpfen der Sozialversicherung welche Reserven vorhanden sind. Als Minister habe ich ja ein Einschaurecht, und das nehme ich wahr. Die Kassen sind von der Konjunkturentwicklung abhängig, und jetzt verändert sich gerade die Steuereinnahmensituation dramatisch.
Inwiefern? Wir haben im Herbst vier sich überlagernde Krisen: die Energiefrage, die Teuerung – die uns länger begleiten und auf alle Bereiche durchschlagen wird –, die Pandemie und die Flüchtlingssituation durch den Ukrainekrieg. Entlang dieser Ausgangssituation wird man die Budget- und Finanzausgleichsverhandlungen denken und führen müssen. Die Verhandlungen beginnen jetzt, und wir müssen Pflege und Gesundheit als eng zusammengehörend denken. Es geht aber nur unter Mitfinanzierung der Länder. Diese Gespräche werden, salopp formuliert, brutal – alle stehen finanziell an der Wand. Vielleicht ist das aber auch eine gute Möglichkeit, Strukturreformen anzudenken.
Wie sollen diese aussehen? Ich kann es nicht riskieren, zehn bis fünfzehn Prozent der Bevölkerung in die Armut abrutschen zu lassen. Ich kann es auch nicht zulassen, 20 Prozent der Pflegekräfte zu verlieren, weil sie ausgebrannt sind. Wenn es nicht gelingt, diese Menschen in ihrem Job zu halten, müssen wir nicht mehr diskutieren, ob es einen Pflegenotstand gibt oder nicht. Da geht es auch um Fragen der Anerkennung von Ausbildungen und Nostrifikationen. Wir haben nicht nur einen Mangel an Pflegekräften oder Ärzten, sondern insgesamt einen Arbeitskräftemangel – alle Branchen suchen Personal. Klatschen allein ist da zu wenig. Die Bundesregierung hat deshalb das größte Reformpaket der vergangenen Jahrzehnte für die Pflege zusammengestellt. Mit rund einer Milliarde Euro bis zum Ende der Gesetzgebungsperiode verbessern wir die Rahmenbedingungen für die Menschen, die in der Pflege arbeiten. Wir machen die Ausbildung deutlich attraktiver. Und wir unterstützen Menschen, die Pflege benötigen, und entlasten pflegende Angehörige. Die Menschen, die in der Pflege arbeiten, haben sich diese Verbesserungen längst verdient. Dieses große Pflegepaket ist dazu ein wichtiger Schritt.
Wie sind Ihre Pläne für die ärztliche Versorgung? Auch hier gilt, wie schon gesagt: Wenn es nicht gelingt, alle wesentlichen Player in ein Verhandlungssetting zu bekommen, werden wir die Probleme nicht lösen können. Ich bin in vielen Bereichen nur der Moderator und muss es schaffen, dass alle Seiten – wie etwa Krankenversicherungen und Ärztekammer – vernünftig miteinander reden. Ich kann deshalb nur appellieren: „Bitte in ernsthafte Verhandlungen eintreten!“ Natürlich wird man über manche Dinge auch streiten, aber ohne ernsthafte Verhandlungen werden wir nichts verändern – verändern bei der Verbesserung der Qualität, bei der Versorgungssicherheit und für das Personal.
Im ärztlichen Bereich tobt gerade eine Debatte über unbesetzte Kassenstellen und Wahlärzte. Manche in der ÖGK und auch in ÖVP-Bundesländern fordern, Medizin-Absolventen zu verpflichten, für eine bestimmte Zeit als Kassenarzt zu arbeiten. Darüber wird man reden müssen. Notwendig ist die Debatte deshalb, weil wir eben im niedergelassenen Bereich ein Problem haben, genug Ärzte zu bekommen. Wie wir dieses Problem lösen, das wird ein Konflikt mit der Ärztekammer – und den bin ich bereit, zu führen. Wir sehen, dass sehr viele junge Ärztinnen und Ärzte lieber in eine Wahlarztpraxis gehen. Die Zielsetzung muss sein, für die österreichische Bevölkerung eine gute medizinische Versorgung sicherzustellen, und zwar ohne eine Zweiklassenmedizin zu etablieren. Das Wahlarztsystem gänzlich abzuschaffen ist nicht sinnvoll, aber wir werden zu Lösungen kommen müssen, mit denen auch sichergestellt wird, dass der niedergelassene Bereich gerade im ländlichen Raum besetzt werden kann.
Ein Thema ist die Aufwertung der Allgemeinmedizin zu einem eigenen Fach. Das stand schon in mehreren Regierungsprogrammen, es tut sich aber nichts. Den Facharzt für Allgemeinmedizin würde ich nicht als hoffnungsloses Projekt bezeichnen. Das ist Teil der Verhandlungen. Es gibt da aber nicht nur ein Nehmen – es muss auch ein Geben stattfinden. Die Haltung – „ich setz’ mich durch, ich bin der Stärkere“ – mag kurzfristig funktionieren, langfristig nicht. Diese Botschaft gilt für alle – Länder, Krankenversicherungen und Ärzteschaft.
Ein anderes Projekt sind Community Nurses. Hier weiß aber niemand so genau, was sie wirklich tun und wen sie entlasten sollen … Hier sind wir jetzt in Modellversuchen, die gut anlaufen. Das zeigt, dass es Bedarf gibt. Jetzt sollen einmal alle arbeiten, und ich schau mir die Pilotprojekte dann an. Im Prinzip ist es eine Form von Gemeinwesenarbeit. Die Grenzen sind hier nicht so scharf gezogen. Früher gab es die Familie, den Krankenpflegeverein und das Pflege- und Altenheim. Jetzt sind die Angebote viel breiter – es braucht also jemanden, der das koordiniert und den Betreuungsbedarf erhebt. Community Nurses sind aber nicht als Entlastungsmodell für einzelne Gruppen wie Gemeinden gedacht und auch kein Partikularbesitz von Ärzten, die ihre Ordination entlasten wollen. Natürlich müssen sich aber alle Akteure abstimmen.
Das Interview führte Martin Rümmele