Komplexitätsforscher haben erstmals analysiert, wie gut die Versorgungsstruktur pro Bundesland und Fachbereich ist. Damit zeigt sich auch, wo sich größere Lücken auftun können.
Fallen Ärzte aufgrund von Pensionierungen oder Covid-19 in größerer Zahl aus, kann das mitunter rasch markante Löcher in die Gesundheitsversorgung reißen. Komplexitätsforscher zeigen nun in einem „Stresstest“, wie dick die Versorgungsdecke pro Bundesland und Fachbereich ist. Seine umfassende Analyse stellte das Team um Forscher:innen vom Complexity Science Hub Vienna (CSH) nun im Fachjournal „Nature Communications“ vor.
Die Stabilität des Gesundheitssystems testeten die Wissenschafter:innen anhand von anonymisierten Patienten- und Ärztedaten (Abrechnungsdaten), wie Jana Lasser (TU Graz) im Gespräch mit der APA erklärte. Hier lässt sich nachvollziehen, wer in Österreich welche systemrelevanten Ärzt:innen aufsucht und wohin sich Patient:innen wenden, wenn niedergelassene Mediziner:innen etwa im Urlaub sind und ausfallen. „Daraus können wir ein sogenanntes Patientenflussnetzwerk erstellen“, erklärt die Komplexitätsforscherin. Zusammen mit Informationen zu Öffnungszeiten schätzte das Team ab, wie groß die Kapazitäten der einzelnen Ärzt:innen in etwa sind. Das erlaubt eine Einschätzung der Überlastungsgrenze – sprich, ab wann sie zusätzliche Patient:innen letztlich nicht mehr aufnehmen können.
Lasser und Kolleg:innen setzten dieses virtuelle System dann Schocks aus: So simulierte man einerseits ein langsames Ausdünnen der Ärzteschaft durch Pensionierungen ohne Nachbesetzungen und andererseits ein rasches Minus von 15 Prozent weniger Ärzt:innen etwa durch Covid-19-Erkrankungen. Einen Kollaps machen die Wissenschafter:innen daran fest, wenn der Punkt in den mannigfaltigen Simulationen erreicht war, dass Erkrankte in ihrer näheren Umgebung auf keine Ärztin oder keinen Arzt mehr ausweichen konnten.
Dabei zeigte sich, dass die jeweiligen Netze nach Bundesland und Fachgebiet sehr unterschiedlich belastbar sind. Bis es etwa in Vorarlberg zu gravierenden Versorgungsengpässen kommt, ist es laut den Analysen ein weiterer Weg als etwa Niederösterreich oder der Steiermark, wo es in manchen Bereichen bereits bei einem Ärzte-Minus von um die zehn Prozent für die Patient:innen sehr schwierig würde. Während fast bundesweit der Bereich der Radiologie recht robust erscheint, sieht man etwa bei den Kinderärzt:innen, in der Gynäkologie, Augenheilkunde oder Urologie recht wenig Spielraum.
Die Studie zeige auch eindeutig, dass es nicht nur darauf ankommt, wie hoch die Ärztedichte an sich ist, sondern auch „wie vernetzt die Ärzte untereinander sind“, erklärte Lasser. In Vorarlberg sei das System insgesamt stärker verbunden: „Das heißt, die Patientenströme verteilen sich mehr.“ Möglicherweise seien im Westen auch die zeitlichen Kapazitäten der Ärzt:innen im Schnitt höher. Obwohl es etwa in der Steiermark und in Vorarlberg ähnlich viele Augenärzt:innen mit Kassenvertrag pro Kopf gibt, wird es in ersterem Bundesland schon bei sieben Prozent Ausfällen kritisch, in letzterem aber erst bei einem Minus von 28 Prozent.
In dem Covid-19-Schockszenario wurde klar, dass bei den Allgemeinmediziner:innen ein Schock relativ gut verkraftbar ist. Braucht man unter solchen Voraussetzungen aber eine augenärztliche oder neurologische Versorgung, kann es deutlich schwieriger werden. „Wir werden auch in Zukunft Krisen bewältigen müssen, weshalb eigentlich alle Länder vor der Herausforderung stehen, ihre Gesundheitssysteme neu aufzustellen“, sagte Peter Klimek. „Wir empfehlen den Gesundheitsbehörden nachdrücklich: Schaut euch an, wie gut eure Netzwerke Schocks absorbieren können. Denn erst wenn die kritischen Punkte bekannt sind, ist eine gezielte Planung möglich, die die Balance zwischen Kosteneffizienz und Krisenfestigkeit findet“, betonte Klimek. (red/APA)
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