Andreas Sönnichsen, Vorstand der Abteilung für Allgemein- und Familienmedizin an der Meduni Wien ist sauer. Und er zeigt das in einem offenen Brief an den Gesundheitsminister. Der Grund: Gleich mehrere Studien zeigen jetzt, dass der Corona-Lockdown in anderen Bereichen massive gesundheitliche „Nebenwirkungen“ brachte.
Zahlreiche Experten hatten während der Lockdown und auch danach davor gewarnt, dass der Fokus auf das Corona-Virus dazu führen könnte, dass andere Krankheiten und wichtige Behandlungen hintenangestellt werden und damit zu massiven Kollateralschäden führen könnte. Jetzt wurde das nicht nur durch aktuelle Studien belegt, sondern auch von Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) eingeräumt. Während des Lockdowns haben demnach Österreichs Spitäler ihre Leistungen stark zurückgefahren. Die Zahl der Spitalsaufenthalte bei akuten und nicht akuten Erkrankungen sowie bei nicht lebensnotwendigen Eingriffen sank deutlich. Problematisch: Auch Krebsdiagnostik wurde verschoben. Dies ergab eine Abschätzung der Gesundheit Österreich GmbH (GÖG), die nun präsentiert wurde. „Bei den Herzinfarkten mit interventionellen Eingriffen gab es von März bis Mai eine Reduktion der stationären Aufenthalte um 25 Prozent“, sagte GÖG-Expertin Karin Eglau. Aus anderen Ländern seien Reduktionen um bis zu 40 Prozent berichtet worden. Die Krankenhausaufenthalte nach Schlaganfällen blieben hingegen etwa gleich. Hier gebe es international Reduktionen von bis zu 30 Prozent, berichtete die Expertin. Ein Positivum: „Die Spitalsaufenthalte wegen Unfalldiagnosen haben sich halbiert.“ Offenbar sei es auch zu weniger Unfällen insgesamt gekommen.
Dafür sei eher bedenklich, was die Versorgung von Patienten mit Krebs oder Krebsverdacht betraf: Bei der GÖG wurde während des Lockdowns ein Rückgang der Spitalsaufenthalte wegen um 20 Prozent beobachtet. Das betreffe sowohl Therapien als auch Aufenthalte wegen diagnostischer Eingriffe, betonte Eglau. Die Zahl der Brustkrebsoperationen ging von rund 500 in Österreich im März 2020 (ähnliches Niveau wie 2019) auf etwa 350 im Mai zurück und steigt seither nur langsam an. Die Expertin: „Wenn keine Mammografien erfolgen, können keine Diagnosen gestellt werden. Dann kann man nicht operieren.“ Die Sache sei längst nicht ausgestanden. Eglau erklärte, es könnten in der Folge auch Diagnosen erst in einem späteren (und gefährlicheren) Stadium der Erkrankung auffällig werden. Anschober betonte, man wolle mit solchen und weitergehenden Analysen aus der vergangenen Krise für die Zukunft die richtigen Schlüsse ziehen, um das österreichische Gesundheitswesen für solche Herausforderungen noch stabiler zu machen.
Es gibt aber noch mehr Zahlen: In Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage der FPÖ hat Anschober vom Dachverband der Sozialversicherungen erheben lassen, wie viele nicht lebensnotwendige medizinische Behandlungen und Eingriffe abgesagt beziehungsweise verschoben worden sind. Im Bereich der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) waren dies knapp 2000, wobei Akuteingriffe davon ausgenommen waren. Im Detail wurden seitens der ÖGK rund 1000 Katarakt-Operationen verschoben. Auf einen späteren Zeitpunkt verlegt wurden außerdem jeweils rund 280 chirurgische und orthopädische sowie je 150 gynäkologische und HNO-Eingriffe. Weiters wurden 130 urologische Operationen verlegt. Seitens der AUVA wurde zu Beginn der Coronakrise die Anzahl elektiver Eingriffe um rund 80 Prozent reduziert. Lebenswichtige Operationen habe man „zu jedem Zeitpunkt durchgeführt“, betont der Dachverband. Auch eine andere Analyse lässt aufhorchen: Während des Lockdown sind offenbar deutlich mehr Senioren mit Verletzungen nach Stürzen und Ähnlichem auf dem Operationstisch der Unfallchirurgie gelandet als in anderen Jahren. Das ergab eine Untersuchung im Krankenhaus Braunau in Oberösterreich. Primar Jürgen Barth führt das unter anderem darauf zurück, dass die Betroffenen „mehr als sonst auf sich selbst angewiesen“ waren. In der Gruppe der Über-65-Jährigen habe die Zahl der alterstypischen Verletzungen wie Frakturen an Oberschenkeln, Wirbeln und Oberarmen um fast 40 Prozent zugenommen, berichtete Barth. Besonders stark betroffen war die Gruppe der 65- bis 80-Jährigen. „Das sind vor allem jene Personen, die noch zuhause und nicht in Pflegeheimen betreut werden“, so Barth.
Einer, dem die Zahlen sauer aufstoßen, ist Andreas Sönnichsen, Vorstand der Abteilung für Allgemein- und Familienmedizin an der Meduni Wien. Er hat am Donnerstag auf seiner Facebook-Seite einen offenen Brief an Anschober veröffentlicht. „Am 2. April 2020 haben Sie mir in ZiB2 Verantwortungslosigkeit vorgeworfen, weil ich es gewagt habe, darauf hinzuweisen, dass der Lockdown möglicherweise größere Schäden verursacht als nützt“, schreibt Sönnichsen. Obwohl die Infektionszahlen da bereits rückläufig gewesen seien, „wurden die massiven Lockdown-Maßnahmen noch bis Mitte Mai fortgesetzt, unter anderem die von vornherein vollkommen sinnlose Schulschließung.“ Nun offenbare sich langsam der wahre Schaden, den vor allem die Schulschließungen angerichtet haben, nicht in Ihren wohlbehüteten Kreisen, „sondern in den sozial schwachen und ohnehin benachteiligten Bevölkerungskreisen, die Ihnen als Vertreter grüner Politik doch besonders am Herzen liegen sollten.“ Nun werde eine vermeintliche „zweite Welle“ herbeigeredet und herbeigemessen. Sönnichsens Forderung: „Bitte nehmen Sie endlich die wahren Zahlen und wissenschaftlichen Fakten zur Kenntnis und übernehmen Sie wirklich Verantwortung für das Wohlergehen unserer Bevölkerung! Stehen Sie endlich ein für grüne Politik, die Verantwortung für die gesamte Menschheit und unseren Planeten übernimmt.“ (red)