Die Politik diskutiert gerade über Normalität. Der Wunsch danach ist in der Bevölkerung groß. Doch was ist normal? Und führt der Begriff nicht zwingend zur Ausgrenzung? Die Medizingeschichte gibt Antworten.
Was ist normal und was nicht? Und wer definiert das? Die Mehrheitsgesellschaft, wie es nicht nur in Österreich derzeit Mitte-Rechts-Parteien zu vermitteln versuchen? Was ist dann mit Minderheiten und jenen, die nicht die Vorgaben erfüllen. Mitte-Links-Parteien warnen vor einem Schritt hin zu politischen Ausgrenzungen. Hinter der Diskussion steht auf den ersten Blick vor allem die Unsicherheit in weiten Teilen der Bevölkerung aufgrund der Permakrisen aus Pandemie, Krieg, Klimakrise und Inflation. Wir wünschen uns eine Rückkehr in die Zeit vor den Krisen. Eine Rückkehr in die Normalität. Die Debatte darüber will suggerieren, dass das auch möglich ist.
Doch das ist es nicht, es braucht Antworten auf die Krisen und keine Verdrängung. Wir können als Gesellschaft und Politik nicht einfach so weitermachen, wie bisher. Das löst nicht zuletzt die gravierenden Probleme im Gesundheits- und Pflegebereich nicht. „Statt wichtige Probleme zu lösen, widmet sich Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) der Debatte, was denn ‚normal‘ sei“, kritisierte dieser Tage auch die „Kronenzeitung“ ungewöhnlich scharf.
Die Normalitätsdebatte hat aber auch die Schlagseite, rückwärtsgewandt und ausgrenzend zu sein. Wie sehr das nicht nur Problemlösungen behindert, sondern auch Fortschritt, belegt gerade die Medizingeschichte. Neue medizinische Erkenntnisse wurden immer bekämpft von den Anhänger:innen der geltenden Lehrmeinung und ihren Schüler:innen. Nicht selten aber nicht nur wissenschaftlich, sondern auch gegen die Person gerichtet. Zu seinen Lebzeiten wurden etwa die Erkenntnisse von Ignaz Semmelweis nicht anerkannt und von Kollegen als „spekulativer Unfug“ abgelehnt. Seine Studie zur Hygiene gilt heute als auch erster praktischer Fall von evidenzbasierter Medizin. Dass Semmelweis im Alter von 47 Jahren unter nicht näher geklärten Umständen während eines zweiwöchigen Aufenthalts in der Psychiatrischen Klinik „Landesirrenanstalt Döbling“ starb, macht die Geschichte besonders tragisch.
Oder der deutsche Arzt, Psychiater und Neuropathologe Alois Alzheimer: er arbeitete über mehrere Jahre hinweg unentgeltlich, da es für ihn keine Planstelle gab. Oder Charles Darwin, dessen Hauptwerk „Über den Ursprung der Arten“ 1859 die Grundlage der modernen Evolutionstheorie bildet und im Grunde auch der modernen Medizin auf der Basis der Genomsequenzierung. Darwin rief vor allen Dingen die Kritik der Kirchen auf den Plan, die den Menschen als besondere, über der Natur stehende Schöpfung Gottes betrachtete. Ein anderes Beispiel ist Archie Cochrane, der einen Mangel an zuverlässiger Evidenz für viele klinische (diagnostischer und therapeutischer) Verfahren in der Gesundheitsversorgung kritisierte und systematische Übersichtsarbeiten über alle verfügbaren randomisierten kontrollierten Studien als Grundlage für ihre Bewertung forderte. War er normal aus Sicht der damaligen Medizin?
Der britische Arzt und Anatom William Harvey stellte sich 1628 mit der Arbeit „Über die Bewegung des Herzens und des Blutes“, einer erstmaligen Beschreibung des Kreislaufs vom Blut im Körper, gegen die seit 14 Jahrhunderten geltenden medizinischen Ansicht der Lehre von Galenos von Pergamon. Am 10. Mai vor 90 Jahren inszenierten die Nazis in Deutschland die Verbrennung von Werken von Büchern, deren Inhalt und Autor:innen sie ablehnten. Das Ganze trug den Titel „Aktion wider den undeutschen Geist“ und war ein Auftakt für die systematische Verfolgung Andersdenkender. Darunter waren auch die Werke des österreichischen Neurologen und Tiefenpsychologen Siegmund Freud, dem Begründer der theoretischen und praktischen Psychoanalyse.
In diesen Tagen jährt sich der Tod der oberösterreichischen Hausärztin Lisa-Maria Kellermayr zum ersten Mal. Monatelange Hassnachrichten, Terror und Morddrohungen von Gegner:innen der Coronavirus-Maßnahmen hatten sie in den Tod getrieben. Sie hatte nicht das Gefühl, dass sie von den Behörden und letztlich uns als Gesellschaft geschützt wird. Die vergangenen drei Jahre haben eine wachsenden Wissenschaftsskepsis gezeigt. Auch wenn es sich einige wünschen: die Erde ist keine Scheibe, die Corona-Impfung war wichtig und wir sollten uns statt einer Rückkehr zur Normalität die Offenheit für Neues wünschen und die Bekämpfung der aktuellen Probleme fordern. (rüm)